Einer von hundert Männern hat ein sexuelles Interesse an Kindern. Das heisst, der kindliche Körper erregt ihn, er verliebt sich in Kinder. Warum das so ist, weiss man noch kaum. Genetische Aspekte spielen eine Rolle, aber auch die Persönlichkeitsentwicklung des Mannes in der Kindheit. Das sexuelle Verlangen allein ist noch keine Straftat.
Sexuelle Übergriffe auf Kinder oder der Konsum von Missbrauchsabbildungen – im Volksmund verharmlosend Kinderpornografie genannt – dagegen schon. Bei knapp der Hälfte der Täter steht eine sexuelle Präferenzbesonderheit für Kinder dahinter – gemeinhin als Pädophilie oder Pädosexualität bekannt.
Ich habe gemerkt, dass es nicht einfach wieder aufhören wird, dass mich Kinder anziehen.
Man geht davon aus, dass etwa 0.5 bis 1 Prozent der männlichen Bevölkerung davon betroffen ist – das sind in der Schweiz etwa 30'000 Männer. Dass es auch Frauen gibt, die ähnlich empfinden, ist unbestritten, allerdings gibt es dazu bislang nur wenig Zahlen und Informationen.
Selbst bei den Männern sind es vermutlich mehr als man denkt, denn die meisten sprechen nie darüber, aus Angst vor Repressionen oder Stigmatisierung. Mit niemandem.
«Ich wusste, ich brauche Hilfe»
Auch von den Neigungen von Simon D. weiss kaum jemand: «Es ist ein ständiges Geheimnis, das ich mit mir herumtrage. Und das ist extrem belastend», sagt er. Simon D. ist um die 40 Jahre alt. Er spricht anonym mit uns. Während seiner Lehre als junger Erwachsener merkt er plötzlich, dass ihn Kinderkörper anziehen. Nicht echte Kinder, aber Bilder oder Aufnahmen von ihnen. Er fängt an, Missbrauchsabbildungen zu konsumieren. Ihm gefallen sehr junge Buben und Mädchen.
Simon D. fliegt auf und wird wegen des Konsums illegaler Pornografie verurteilt. Der Schuldspruch löst etwas in Simon D. aus. Endlich kann er sich eingestehen: Ich habe ein Problem. «Ich habe gemerkt, dass es nicht einfach wieder aufhören wird, dass mich Kinder anziehen. Dass ich ein Problem habe und das nicht mehr schönreden kann. Ich wusste, ich brauche Hilfe.»
Mikado-Studie 2015
Durch einen glücklichen Zufall kommt er in Kontakt mit Marc Graf, der in Basel die Klinik für Forensik leitet und dort mit Menschen arbeitet, die pädophile Neigungen haben. Simon D. beginnt eine Therapie. Er startet mit Einzelsitzungen, später kommt auch eine Gruppentherapie dazu. Das erklärte Ziel: Er soll lernen, mit seiner Sexualität umzugehen.
Soziale Isolation als Gefahr
Nur wenige Männer, die Hilfe brauchen, finden sie so einfach wie Simon D. In der Schweiz gibt es kaum Angebote für Menschen mit einer Präferenzbesonderheit auf Kinder. «Viele Therapeuten lehnen Menschen mit einem Interesse an Kindern ab», erklärt Marc Graf.
Man darf nicht verharmlosen. Denn es ist eine Sexualität, die potenziell grossen Schaden anrichten kann.
Dass Menschen mit einer Pädophilie sowohl professionell als auch in der Gesellschaft Ablehnung erfahren, sei nicht unproblematisch: «Man sollte aufpassen, dass man gerade Menschen, die nicht straffällig werden, nicht noch mehr stigmatisiert.» Je mehr man sie in die soziale Isolation treibe, desto grösser sei die Wahrscheinlichkeit, dass sie dysfunktionale nicht geeignete Bewältigungsstrategien wählten, führt Graf aus. Die grösste Gefahr: Am Ende vernetzen sie sich zum Beispiel mit anderen Betroffenen und werden trotzdem straffällig.
«Man darf aber auch nicht verharmlosen, das ist ganz wichtig. Denn es ist eine Sexualität, die potenziell grossen Schaden anrichten kann», hält Graf fest.
Dass in der Schweiz Therapieangebote dünn gesät sind, hat vor wenigen Wochen auch der Bundesrat erkannt. Er unterstützt nun verschiedene Vorhaben. Solche Subventionen haben das Präventionsprojekt in Basel ermöglicht. Es beruht auf Freiwilligkeit, richtet sich explizit an Betroffene, die selbst unter ihrer Situation leiden und bisher keine Taten begangen haben oder aber keine mehr begehen wollen.
Simon D. ist nicht kernpädophil. Das heisst, ihn erregen nicht ausschliesslich Kinder. Im realen Leben verliebe er sich nicht in sie. Und doch ist die Angst da, dass es zu einem echten Übergriff kommen könnte. «Man hat schon auch die Vorstellung, das im Realen zu erleben. Aber das verstösst bei mir gleichzeitig komplett gegen alle Wertvorstellungen. Das ist ein ständiger emotionaler Kampf, den man führt. Mein Körper spricht auf Kinder an, selbst verurteile ich das zutiefst.» Simon D. hat zwei Nichten. Als sie in einem Alter sind, das ihn sexuell anspricht, tauchen plötzlich auch deren Bilder in einem sexuellen Kontext auf. «Da haben bei mir alle Alarmglocken geläutet.»
In der Gesellschaft löst kaum etwas mehr Abscheu aus als Menschen mit einem sexuellen Interesse an Kindern. Dass nicht alle straffällig werden oder Übergriffe begehen, macht kaum einen Unterschied. Dabei wäre das wichtig, sagt Marc Graf: «Das ist ganz wichtig zu unterscheiden, dass niemand etwas dafür kann, wie er oder sie geworden ist als Persönlichkeit und damit gehört auch die sexuelle Präferenz dazu. Man sucht sich das nicht aus. Aber – und jetzt wird es ganz wichtig: Man ist verantwortlich dafür, wie man damit umgeht. Mit der eigenen Persönlichkeit und der eigenen Sexualität.»
Simon D. ist durch den Konsum von Missbrauchsabbildungen straffällig geworden, hat Kindern – die für diese Filme sexuell missbraucht wurden – geschadet. Das wird auch in der Therapie klar verurteilt. Dass ihn der kindliche Körper sexuell anspricht allerdings nicht. Und genau das sei wichtig bei einer Therapie, sagt einer der Vorreiter in Sachen Prävention – Klaus Michael Beier von der Berliner Charité.
Der Leiter des Instituts für Sexualmedizin hat vor bald 15 Jahren das Netzwerk «Kein Täter werden» ins Leben gerufen. Wichtig sei, eine Therapie anzubieten, die nicht werte. «Die Hauptmotivation ist ja zu versuchen, diejenigen, die ein solches Risiko in sich tragen, zu erreichen, bevor es zu Übergriffen kommt. Und gleichzeitig deren – meist psychische – Gesundheit zu verbessern. Der Leidensdruck Betroffener ist oft sehr hoch. Und deshalb ist es unsere Strategie, sie zu integrieren. Angehörige einzubinden. Die Freundschaftsverhältnisse zu verbessern. Dass sie in diesem engen Kreis auch darüber reden können, dass sie so sind wie sie sind. Und sie so aus der Isolation befreien. Für ihre eigene Gesundheit, aber auch – ganz wichtig – für den Kinderschutz.»
Therapie am Anfang meist eine Notfallhilfe
Wie viele Übergriffe und Straftaten so verhindert werden können, lässt sich nicht direkt messen. Aber jeder der eine Therapie absolviert, verschwindet zumindest nicht im Dunkelfeld. Laut Graf ist die Therapie am Anfang meistens eine Notfallhilfe. «Das ist ganz wichtig, dass einfach bei einer ersten Kontaktaufnahme, dass man anbietet zu unterstützen, dass nichts Schlimmes passiert. Weder der Suizid noch der Übergriff.» Später gehe es auch darum, für die Betroffenen Sicherheit zu schaffen. Also was können sie tun, um nicht straffällig zu werden. Später dann auch darum, zu verstehen, wie man mit der eigenen sexuellen Präferenz umgeht. Und sie ins Leben integriert. Sei es, in dem man sein Leben auf anderes als Sexualität und Beziehungen ausrichtet oder aber den legalen Erwachsenenbereich stärkt.
Simon D. kann heute besser mit seiner sexuellen Präferenz an Kindern umgehen. Sogar eine reale erwachsene Beziehung kann er, der noch nie eine Beziehung hatte, sich inzwischen vorstellen. «Ich habe in der Therapie Wege gefunden, das in andere Bahnen zu leiten. Dass man sich auch normale erwachsene pornografische Darstellungen sozusagen schönredet.» Oder indem er das Bild seiner Nichten neben den Computer hängt. Wann immer er verleitet ist, Missbrauchsabbildungen zu konsumieren, wird er daran erinnert, dass dabei reales Leid entsteht. Bei Simon D. hat die Therapie viel bewirkt. Für andere Betroffene hofft er, dass sie, auch dank mehr Präventionsangeboten, schneller Hilfe finden und die vor allem schneller annehmen.