Artemis liegt aufmerksam und mit gespitzten Ohren neben Gabriel. Mit einer Hand streichelt der 11-jährige Schüler die Mischlingshündin. Mit der anderen hält er ein Buch auf seinem Schoss und liest daraus vor: «Die Wölfe waren nützlich für die Menschen bei der Jagd», zuerst stockend, dann immer flüssiger taucht er in den Text ein.
Das Sachbuch erklärt, wie Wölfe zu Haustieren der Menschen wurden. Das Buch hat Gabriel extra ausgesucht, weil er denkt, dass es den Hund interessieren könnte. Ein liebenswürdiger Gedanke, denn eigentlich ist Artemis für Gabriel da, nicht umgekehrt.
Der Hund beruhigt und motiviert
Lesen mag Gabriel nämlich überhaupt nicht. Denn es fällt ihm schwer, sich darauf zu konzentrieren. Immer wieder spazieren seine Gedanken hierhin und dorthin. Vorlesen sei für ihn normalerweise ein «neurologischer Riesenstress», sagt seine Lehrerin, Pilar Herrmann.
Mit dem Hund sei das ganz anders: «Sobald ein Hund da ist, reguliert dieser die Stresssituation unmittelbar. Das schaffen wir Therapeuten so nicht.» Im Raum sind nur der Hund und das Kind. Ungestört sein sei wichtig für die Kinder, sagt die Hundebesitzerin und Lesehund-Fachfrau Judith Affolter.
«Die Idee: Es soll niemand im Raum sein, der lesen kann und potenziell das Kind korrigieren könnte.» Der Hund ist dazu eindeutig nicht in der Lage und komplett vorurteilsfrei. Er legt sich einfach neben das Kind und lässt sich streicheln.
Tiere haben einen magischen Effekt.
«Ich habe schon oft beobachtet, dass das Vorlesen schon nach fünf Minuten flüssiger läuft.» Das Streicheln setzt Glückshormone frei, die Kinder entspannen sich und trauen sich auch viel mehr zu. Tiere, glaubt Judith Affolter, hätten einen geradezu magischen Effekt.
Ein Gewinn für alle Beteiligten
Wie gerne ihre Hündin Kinder mag und wie beruhigend sie auf Kinder wirkt, entdeckte Judith Affolter schon früh bei ihren Neffen und Nichten. Sie wollte, dass auch andere von diesen Eigenschaften profitieren können und absolvierte deshalb eine niederschwellige Ausbildung zur Lesehund-Fachfrau im Therapiehund-Zentrum Schweiz.«Es ist eine Win-Win-Win-Situation für alle», ist Judith Affolter überzeugt.
Ein Problem ist nach wie vor die Finanzierung der Lesehunde. Eine halbe Stunde mit einem einzelnen Kind kostet 35 Franken. Mit einer ganzen Klasse sind es 80 bis 100 Franken. Geld, das vielen Schulen nicht einfach so zur Verfügung steht. Das ausserschulische Angebot ist noch nicht sehr bekannt und kein Bestandteil eines normalen Schulbudgets.
Der Hund hört zu, ohne Unterbruch
Lehrerin Pilar Herrmann würde es begrüssen, wenn die Schule das Angebot institutionalisieren und ausweiten könnte. «Auch andere Klassen, die schon davon gehört und es mega lässig gefunden haben, könnten davon profitieren.»
Gabriel müsste man nicht überzeugen. Ihm hat es gefallen, Artemis vorzulesen. Er glaubt irgendwie auch, dass sie ihn verstanden hat. Der grosse Unterschied zum Vorlesen bei einem Menschen: «Hunde sind ruhig. Ich kann mit ihnen reden, aber sie nicht mit mir.» Die Hündin hat einfach ruhig zugehört, ohne ihn zu unterbrechen. Das Lesen hat vielleicht etwas von seinem Schrecken verloren.