Impfen oder nicht? Maske oder nicht? Der Coronastreit in der Gesellschaft geht bis in die Familien hinein. 62 Prozent der Befragten im aktuellen SRG-Corona-Monitor, eine Spezialauswertung für die Sendung «Schweiz aktuell», berichten über Streit im privaten Umfeld. Wieso birgt ausgerechnet eine Pandemie ein so grosses Konfliktpotenzial? Soziologin Katja Rost ordnet ein.
SRF News: Wieso sorgt die Coronakrise für derart viele Konflikte?
Katja Rost: Weil die Pandemie unsere sozialen Regeln und Normen verändert hat. Beim Umgang mit diesen neuen Normen spaltet sich die Gesellschaft – oder auch die Familie. Ein aktuelles Thema ist das Impfen. Lässt man sich impfen fürs Kollektivgut oder denkt man, dass man kein Versuchskaninchen sein und seine Freiheitsrechte behalten will?
Vor allem die Nicht-Geimpften haben laut der Umfrage ihre Kontakte zu anderen Menschen abgebrochen. Wieso?
Ich vermute, dass hier die Impfgegner gemeint sind. Die Impfgegner sind quasi allein auf weiter Flur, aber untereinander sehr gut vernetzt. Es ist eine sehr wütende Gruppe. Sie stellen sich auf den Standpunkt, dass sie im Recht sind. Diese Gruppe wird vom anderen Teil der Gesellschaft natürlich gemassregelt und sanktioniert. Der Rest sagt: Wegen euch dauert die Pandemie jetzt noch länger! Wegen euch können wir die Herdenimmunität, also ein Kollektivgut, nicht erreichen! Es ist dann ein normaler Mechanismus, dass sich die Gruppe der Impfgegner abgrenzt, um die eigene Position noch stärker zu verdeutlichen.
Ok, man hat hier unterschiedliche Ansichten, aber man mag sich trotzdem. Und man spricht nicht darüber.
Das Virus treibt ganze Familien auseinander: Was sind Strategien im privaten Umfeld, um solche Konflikte zu lösen?
Am besten ist es, nicht darüber zu reden. Politik gehört vielleicht an den Stammtisch, aber nicht an den Familientisch. Politische Themen sind in einer Familie immer schwierig. Man wird sich nie einig, wenn einer SVP wählt und der andere SP. Man sollte deshalb zum Schluss kommen: Ok, man hat hier unterschiedliche Ansichten, aber man mag sich trotzdem. Und man spricht nicht darüber.
Wie soll die Gesellschaft mit diesen Problemen umgehen?
Eine Gesellschaft muss das aushalten. Und sie wird das aushalten. Solche Probleme kommen immer wieder vor. Eine Gesellschaft ringt um Antworten. Am Ende ist es ein Kampf zwischen Freiheitsrechten und einer Gemeinschaft mit Regeln. Das ist ein Kampf, den die Menschheit führt, seit sie Menschheit ist. Das unterscheidet uns vom Tier.
Werden diese Konflikte längerfristig bestehen bleiben?
Die Corona-Konflikte werden mit der Pandemie verschwinden. Die aktuellen Konflikte werden verdrängt von neuen Konflikten, die gerade dringlicher sind. Zum Beispiel wird das Thema Klima wieder an Bedeutung gewinnen.
Die Pandemie verändert unsere Gesellschaft weniger, als man denkt.
Wie verändert die Pandemie unsere Gesellschaft?
Die Pandemie verändert unsere Gesellschaft weniger, als man denkt. Gewisse Gesellschaftstrends, die wir vorher schon hatten, wurden beschleunigt: zum Beispiel Homeoffice oder die Lokalisierung (regionale Produktion, weniger Reisen). Es zeigte sich auch in der Schweiz, dass der Katastrophenschutz verbessert werden muss. Und es ist notwendig, dass in einer Gesellschaft jeder die auferlegten Massnahmen mittragen kann. Hier besteht sicherlich noch Regelungsbedarf.
Das Gespräch führte Benedikt Widmer.