Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) rechnet schon bald wieder mit über 1000 Coronafällen täglich. Vorsicht sei angezeigt. Angesichts der tiefen Zahl der Spitaleintritte stellt sich allerdings die Frage: Reagiert das BAG zu alarmistisch? Ganz im Gegenteil, sagt Urs Karrer, Mitglied der wissenschaftlichen Corona-Taskforce des Bundes.
SRF News: Gemäss dem BAG wirken sich die Corona-Fallzahlen aktuell noch nicht negativ auf das Gesundheitssystem aus. Dennoch mahnt das BAG – zu Recht?
Urs Karrer: Absolut. Die Schweiz befindet sich nun an einem ähnlichen Punkt wie Grossbritannien vor wenigen Wochen: Die Fallzahlen stiegen zwar, bei den Spitälern dagegen blieb es ruhig. Inzwischen haben sich die Hospitalisierungen in Grossbritannien jedoch verfünffacht.
Der Schweiz droht dasselbe Szenario?
Im Vergleich mit Grossbritannien gibt es einen grossen Unterschied: Bei gefährdeten Personen – wegen Delta gehören inzwischen alle über 50 dazu – sind in Grossbritannien mehr als 95 Prozent doppelt geimpft. Hierzulande sind es erst 70 Prozent. Daher dürfte der Anstieg der Spitaleintritte in der Schweiz früher erfolgen; vermutlich ist dieser Trend schon in zwei bis drei Wochen sichtbar.
Aktuell sind in der Schweiz knapp 45 Prozent der Bevölkerung doppelt geimpft, weitere 8 Prozent haben bislang eine erste Dosis erhalten. Ihre Prognose stellt den Erfolg der Impfung infrage.
Nein, keineswegs. Die Impfung wirkt, aber sie verschiebt die Relationen: Bei 3000 Coronafällen – und diese Zahl könnten wir in drei Wochen erreichen – erwarten wir ähnlich viele Spitaleintritte wie früher bei 1000 Fällen, als es noch keine Impfung gab.
Hinzu kommt: Die Delta-Variante – darauf gehen aktuell mehr als 90 Prozent der Neuinfektionen zurück – ist doppelt so ansteckend wie das Ursprungsvirus. Auch wenn die Hälfte der Bevölkerung immun ist, hat das Virus also immer noch die gleiche epidemiologische Kraft wie jenes Virus, welches im Herbst fast 8000 Schweizerinnen und Schweizern das Leben gekostet hat.
Auch wenn die Hälfte der Bevölkerung immun ist, hat das Virus immer noch die gleiche epidemiologische Kraft wie jenes Virus, welches im letzten Herbst fast 8000 Schweizerinnen und Schweizern das Leben gekostet hat.
Was schlagen Sie vor?
Wir müssen als Erstes versuchen, noch möglichst viele 50- bis 70-Jährige zu impfen. Bei diesen 650'000 ungeimpften Menschen besteht ein klares Risiko, schwer zu erkranken – mit entsprechender Belastung für Spitäler.
Der Bund konzentriert seine Impfkampagne derzeit allerdings vor allem auf die junge Generation. Ein Fehler?
Nein, denn auch sie profitieren von der Impfung. Junge belasten zwar selten die Spitäler, können aber an Long Covid leiden. Bei den über 70-Jährigen verhindert die Impfung Hospitalisierungen und Todesfälle, bei Menschen zwischen 50 und 70 können wir Spitaleintritten vorbeugen und die Intensivstation entlasten.
Der Druck auf die Impfung muss also steigen.
Es braucht auf jeden Fall mehr Einsicht, dass wir mit den Impfstoffen den Trumpf in den Händen halten – wir sollten ihn aber endlich auch ausspielen. Joe Biden hat die Impfung am 4. Juli als patriotische Pflicht bezeichnet, das wäre doch auch etwas für bundesrätliche 1.-August-Ansprachen, am besten in Begleitung mobiler Impfequipen. Stattdessen drosseln gewisse Kantone den Betrieb der Impfzentren – ein sehr ungünstiges Signal.
Dass gewisse Kantone den Betrieb der Impfzentren drosseln, ist ein sehr ungünstiges Signal.
Sie wollen das Wort Impfpflicht partout nicht in den Mund nehmen.
Ein Obligatorium entspricht nicht der hiesigen Tradition und wäre ein Eingriff in die persönliche Integrität. Ich wäre aber nicht überrascht, wenn bei ungebremst steigenden Fallzahlen der Einsatzbereich des Covid-Zertifikats – ähnlich wie in Frankreich – ausgeweitet würde, vor allem für Geimpfte und Genesene.
Das Gespräch führte Evelyne Fischer.