Die Ächtung von ausgestiegenen Mitgliedern der Zeugen Jehovas ist Mobbing und verstösst gegen die Menschenrechte. Zu diesem Schluss kommt ein Zürcher Gerichtsurteil. Sektenexperte Georg Otto Schmid erklärt den Hintergrund.
SRF News: Weshalb brechen Zeugen Jehovas Abtrünnigen gegenüber den Kontakt total ab?
Georg Schmid: Der Kontakt zu Abtrünnigen ist in vielen umstrittenen Gemeinschaften verboten, weil die Ausgestiegenen die Gemeinschaft deshalb verlassen haben, weil sie Zweifel bekommen haben und diese Zweifel nicht überwinden konnten.
Wenn sie mit verbleibenden Mitgliedern weiter in Kontakt stehen würden, könnte es sein, dass sie Zweifel weitergeben und dass sich diese Zweifel ausbreiten würden. Gemeinschaften wollen dem einen Riegel schieben, indem sie den Kontakt zu Aussteigern verbieten. Die Zeugen Jehovas begründen es aber anders, sie sagen, dass der Kontaktabbruch die Ausgestiegenen dazu motivieren soll, wieder zurückzukommen. Und auch das funktioniert manchmal.
Diese Gemeinschaften müssen es hinnehmen, dass sie mit deutlichen Worten beschrieben werden.
Wie wichtig ist denn dieses Urteil?
Es ist sehr wichtig, weil es klarmacht, dass es erlaubt ist, auf problematische Strukturen in umstrittenen Gemeinschaften hinzuweisen. Diese Gemeinschaften müssen es hinnehmen, dass sie auch mit harten, deutlichen Worten beschrieben werden, die sie selbst so nicht anwenden würden.
Gerade umstrittene Gemeinschaften präsentieren ja gegen aussen ein Sonntagsgesicht, das mit der Realität nicht viel zu tun hat. Und es ist legitim, dass Aussenstehende darauf hinweisen, dass es da noch problematische Bezüge gibt und dass diese auch deutlich zu benennen sind.
Bringt dieses Urteil gemobbten Aussteigern etwas? Eine Familie, von der jemand aus den Zeugen Jehovas ausgestiegen ist, wird kaum nach diesem Urteil den Familienfrieden wiederfinden?
Langfristig ist das schon möglich. Die Zeugen Jehovas sind sich durchaus auch ihres Rufes in der Öffentlichkeit bewusst. Sie sind eine werbende Gemeinschaft und können nur erfolgreich sein, wenn sie grundsätzlich in der Öffentlichkeit ein positives Image haben.
Die Praxis des Kontaktabbruchs schadet dem Image der Zeugen Jehovas. Deshalb ist es denkbar, dass die Zeugen Jehovas einmal zu einem anderen Schluss kommen. Aber sie profitieren im Moment noch davon, weil es tatsächlich Menschen gibt, die wegen dem Kontaktabbruch zurückkommen wollen. Das macht es für die Zeugen schwierig, in dieser Sache umzudenken.
Sind Religionsgemeinschaften wie die Zeugen Jehovas heute noch in?
Das ist ganz unterschiedlich. Auf dem religiösen Markt gibt es Trends wie auf allen anderen Märkten. Es gibt Gemeinschaften, die sehr trendy sind, die sich ausbreiten, andere, die eher schrumpfen. Die Zeugen Jehovas haben zahlenmässig in den vergangenen Jahren in der Schweiz leicht zugenommen, von 17'000 Mitgliedern vor zehn Jahren auf 20’000 im Moment. Dieses Wachstum ist im Migrationsbereich zu verorten. Die Zeugen Jehovas haben zahlreiche fremdsprachige Abteilungen, die dann in Migrationsbereiche recht erfolgreich werden.
Das Gespräch führte Danièle Hubacher.