Ein grosser Schritt sei es, dass der Bundesrat die Mitverantwortung an der Verfolgung von Jenischen und Sinti anerkennt. Das sagt Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht und Verfasser des Gutachtens im Tagesgespräch.
SRF News: Sind «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» das Schlimmste, das man machen kann?
Oliver Diggelmann: Ja, das kann man so sagen. Es gibt im Völkerrecht vier Kernverbrechen: Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Genozid und Angriffskrieg. Sie sind alle auf gleicher Ebene, es gibt keine Hierarchie. Aber in der öffentlichen Wahrnehmung gibt es eine Vorstellung einer solchen Hierarchie, was nun Teil der aktuellen Diskussionen ist.
Welche Verbrechen haben Sie festgestellt?
Man kann den Gesamtkomplex der Verfolgung von Jenischen und Sinti zwischen 1926 und 1973 nach der heutigen Konzeption von «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» als das bezeichnen. Fundamentale Menschen- und Grundrechte wurden systematisch und planmässig verletzt. Es handelte sich um einen systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung.
Was ist der Unterschied zwischen den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, Verdingkindern und der Kindswegnahme bei jenischen Familien?
Es gibt Überlappungen, etwa bei der Fremdplatzierung oder bei der Unterbringung von Erwachsenen. Spezifisch ist, dass es sich um eine systematische Verfolgung von Angehörigen einer Gruppe handelte, teilweise ohne den geringsten Anlass.
Es handelte sich um einen systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung.
2013 hat der Bundesrat sich für das Wegschauen bei Verdingkindern und bei den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen entschuldigt. Hat er sich mit der jetzigen Bekräftigung auch für die Mitbeteiligung bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit entschuldigt?
Meiner Meinung nach legen Sie den Finger auf einen wunden Punkt. Es ist ein grosser Schritt einer Landesregierung. Es ist ein Schritt von Wahrhaftigkeit eines Staates, einer Gesellschaft, die sagt, wir schauen hin, und die dieses schwere Etikett akzeptiert. Auf der anderen Seite steht diese schmallippige Entschuldigung. Wenn man genau hinschaut, ist es ein Recyclen einer Entschuldigung, bei welcher es teilweise um etwas anderes gegangen ist.
Es ist wichtig, dass man sich mit gewissem Schwung entschuldigt und nicht mit angezogener Handbremse.
Das Spezifische dieser Gruppenverfolgung wurde nicht angesprochen. Das ist ein Widerspruch, der sich nicht so leicht auflösen lässt. Ich bedaure dies. Denn ich denke, um in die Zukunft schauen zu können, ist es in einem solchen Moment wichtig, dass man sich mit gewissem Schwung entschuldigt und nicht mit angezogener Handbremse. Und die ist hier angezogen. Ich bin ein unabhängiger Experte von Aussen, welcher die Rechtsfragen beantwortet hat. Aber ich darf sagen: Als ich diese Arbeit abgeliefert habe, habe ich gesagt, das Wichtigste wäre, dass man sich rasch entschuldigt und nicht relativiert.
Ist es eine Spitzfindigkeit oder auch bezeichnend für die Aufarbeitung?
Bei der Hürde der heutigen Verständigung gibt es zwei Punkte: Der eine ist das historische Unrecht, das geschehen ist. Der andere, der Umgang damit. Es ging lange, bis überhaupt etwas passierte. Dann hat man sich entschuldigt für finanzielle Unterstützung. Der Staat hielt sich lange raus in der Frage des Verschuldens und sagte, der Bund sei auf Bitten der Kantone tätig geworden.
Die Wunden sind enorm tief.
Es hat sehr viel Druck gebraucht. Die lange Zeitdauer ist eine Quelle von immenser Bitterkeit: Es ist über ein halbes Jahrhundert vergangen seit dem Ende des Hilfswerks «Kinder der Landstrasse». Die Wunden sind enorm tief.
Das Gespräch führte Karoline Arn.