Zum Inhalt springen

Verfolgung von Jenischen «Es ist höchste Zeit für die Entschuldigung des Bundesrats»

Der Bundesrat hat am Donnerstag anerkannt, dass die Verfolgung der Jenischen und Sinti als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» zu bezeichnen ist. Der Drehbuchautor und Filmproduzent Johannes Boesiger war einer der ersten Kunstschaffenden, die sich des Themas angenommen haben.

Johannes Boesiger

Drehbuchautor und Filmproduzent

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Johannes Boesiger ist Drehbuchautor und Filmproduzent. Er schrieb und produzierte den preisgekrönten Kinospielfilm «Kinder der Landstrasse» (1992), der das Unrecht des gleichnamigen Hilfswerks an den Jenischen in der Schweiz thematisierte. Aktuell arbeitet er als Regisseur am Film «Fly Little Bird», der 2026 in die Kinos kommen wird.

SRF News: Johannes Boesiger, der Bundesrat hat sich bei den Jenischen entschuldigt. Wie kommt das bei Ihnen an?

Johannes Boesiger: Das kommt sehr spät. Schon Anfang der 1970er Jahre haben sich jenische Frauen gewehrt. Und es hat bis heute gedauert, dass der Bundesrat eingesteht, dass das ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist. Es ist höchste Eisenbahn, dass dies geschieht.

Der Bundesrat anerkennt Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Box aufklappen Box zuklappen

Zwischen 1926 und 1973 nahm das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» – ein Programm der Stiftung Pro Juventute – mit Hilfe der Behörden rund 600 jenische Kinder ihren Eltern weg. Ziel des Programms war es, die fahrende Lebensweise zu eliminieren.

Der Bundesrat hat am Donnerstag gestützt auf ein Rechtsgutachten anerkannt, dass die im Rahmen des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» erfolgte Verfolgung der Jenischen und Sinti gemäss heutigem Völkerrecht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen ist. Der Staat trage eine Mitverantwortung, da die Verfolgung der Jenischen und Sinti ohne die Mithilfe staatlicher Behörden nicht möglich gewesen wäre.

Ein Genozid liegt laut Rechtsgutachten aber nicht vor. Es habe keine Absicht zur physischen oder biologischen Vernichtung der Jenischen und Sinti bestanden. Und einen Tatbestand «kultureller Genozid», bei der die kulturelle Existenz vernichtet werde, gebe es im Völkerrecht nicht.

Zwei Organisationen verlangten, dass die Verfolgung der Jenischen als Genozid eingestuft wird. Das hat der Bundesrat gestützt auf ein Rechtsgutachten abgelehnt. Sind Sie enttäuscht?

Das wäre die nächste Stufe. Aber das betrifft nicht nur die Jenischen in der Schweiz, sondern auch die Sinti und Roma in Deutschland im Zusammenhang mit Auschwitz und dem Holocaust. Da ist auch noch viel zu tun.

Dank einer Freundin meiner Mutter wusste ich früh vom Kampf des fahrenden Volkes um seine Rechte.

1992 kam der Film «Kinder der Landstrasse» in die Kinos. Wie sind Sie so früh schon auf dieses Thema gekommen?

Ich kam durch meine Mutter auf das Thema. Meine Mutter war eng mit Mariella Mehr [Schweizer Schriftstellerin, die als Kind ihrer jenischen Familie weggenommen wurde, A.d.R.] befreundet. Sie lebte zeitweise bei uns, so dass auch ich mich mit ihr angefreundet habe.

So wusste ich früh vom Kampf des fahrenden Volkes um seine Rechte und konnte sofort auf die Idee des Regisseurs Urs Egger reagieren, man müsse darüber einen Film machen. Ich fing an zu recherchieren und das Drehbuch zu schreiben und habe mich dabei auch immer wieder auf Mariella Mehr abgestützt.

Was hat der Film bewirkt?

So viel ich weiss, hat er erstens einen Beitrag geleistet zur Erziehung einer neuen Generation von Sozialarbeitern - mein Sohn und meine Schwiegertochter bekamen beide während ihres Studiums diesen Film präsentiert.

Der Film «Kinder der Landstrasse»

Box aufklappen Box zuklappen

Der Film handelt vom Schicksal einer jenischen Familie nach Beginn des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit. Er thematisiert wahre Erlebnisse von Jenischen mit dem Hilfsprogramm «Kinder der Landstrasse» der Stiftung Pro Juventute, das Kinder aus «rassenhygienischen» Motiven fremdplatzierte. Der Film kam im Mai 1992 in die Schweizer Kinos. Er wurde beim Filmfestival von Amiens und in Fort Lauderdale ausgezeichnet.

Zweitens gab es eine positive Veränderung im Vormundschaftsrecht. Damit bin ich konfrontiert worden, als ich 2017 - nach Jahren im Ausland - in die Schweiz zurückkam, um Pflegevater und Beistand meines verwaisten fünfjährigen Göttibubs zu werden – wie von der verstorbenen Mutter gewünscht. Da habe ich gemerkt, dass es im Vormundschaftsrecht einige positive Änderungen gegeben hat, auch wenn es noch weitere Verbesserungen braucht.

Es ist nach wie vor ein Kampf um Standplätze und um Anerkennung der Kultur und Sprache.

Der Chef der zuständigen Kindesschutzbehörde sagte mir, dass er sich mit mir verbunden fühle, weil ich Produzent und Autor des Films «Kinder der Landstrasse» sei. Da hat sich für mich ein Kreis geschlossen, als ich gemerkt habe: Der Film hat etwas bewirkt. Das hat mich gefreut. Aber es sollte weitergehen.

Porträt eines Mannes
Legende: Der Drehbuchautor, Filmproduzent und Regisseur Johannes Boesiger lebt mit seinem zwölfjährigen Pflegesohn in Zürich. ZVG / Jonas Boesiger

Wie geht es den Jenischen und den Sinti heute in der Schweiz?

Ich verfolge das Thema eher am Rande - ich bin Mitglied der Radgenossenschaft der Fahrenden, das ist die Dachorganisation der Jenischen und Sinti in der Schweiz - aber was ich sehe: Es ist nach wie vor ein Kampf um Standplätze und um Anerkennung der Kultur und Sprache. Persönlich bin ich der Meinung, dass die Sprache der Jenischen auch auf unsere Banknote gehört.

Das Gespräch führte Sibilla Bondolfi.

Echo der Zeit, 20.02.2025, 18.00 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel