Ignazio Cassis bleibt Aussenminister – und legt einen Entwurf für Verhandlungsleitlinien mit der EU vor. Im Interview sagt er, auf welche Verbesserungen er in den EU-Verhandlungen besonders stolz ist, wo noch Diskussionsbedarf besteht und wie Winterthurer Hüftprothesen direkt in Lissabon verkauft werden können.
SRF News: Ignazio Cassis, sind Sie Aussenminister geblieben, weil Sie so glücklich sind mit dem Erreichten in Brüssel?
Ignazio Cassis: Ich bin noch Aussenminister und habe gewünscht, mich weiterhin mit diesem Thema zu beschäftigen, weil ich es als meine institutionelle Verantwortung erachte, dieses Thema zu einem glücklichen Ende zu bringen.
Worauf sind Sie besonders stolz?
Dass wir beim zweiten Versuch von Beginn an die Diskussion in der Schweiz geführt haben, eine innenpolitisch gute Diskussion mit den Kantonen und den Sozialpartnern. Wir sind uns nicht überall einig, aber wir wirken zusammen, und das reflektiert sich in der Stärkung unserer Position gegenüber der Europäischen Union.
Aussenpolitisch haben wir schon einen guten Absicherungsmechanismus definiert, aber das reicht noch nicht.
Ich bin stolz, dass wir jetzt einen breiten Paketansatz haben und vor allem, dass wir auf den bilateralen Weg bauen, und nicht einen Rahmen, einen horizontalen Weg, wie das letzte Mal.
Was ist das inhaltlich Beste, was Sie erreicht haben?
Heute haben wir Klarheit darüber, welche Gesundheits- und Stromzusammenarbeit und welche institutionelle Lösung konkret machbar ist. Aber vor allem, dass die Personenfreizügigkeit weiterhin eine Freiheit der Arbeitnehmer und nicht der Unionsbürger ist.
Beim intern umstrittenen Lohnschutz haben Sie erreicht, dass, falls die Lohnschutzregeln in der EU schlechter würden, wir diese nicht übernehmen müssten. Dennoch sind die Gewerkschaften nicht zufrieden, die SVP sowieso nicht. Wie wollen Sie so politische Mehrheiten erreichen?
Wir haben erst einen halben Schritt gemacht. Auf der aussenpolitischen Seite haben wir schon einen guten Absicherungsmechanismus definiert, das ist auch innenpolitisch anerkannt. Aber das reicht noch nicht, um die Sicherheit zu geben, die nötig ist. Deshalb werden wir jetzt auf der aussenpolitischen Seite verhandeln und führen die Diskussion weiter mit den Sozialpartnern.
Die Sozialpartner sind im Gespräch, aber man hat noch nichts Handfestes von ihnen gehört. Wäre es jetzt an der Zeit, dass der Bundesrat selbst konkrete Vorschläge macht?
Unser Ziel wäre es, dass die Sozialpartner Schritt für Schritt zu einer Einigung kommen. Falls sie nicht zum Ziel kommen, hat der Bund schon vor eineinhalb Jahren gesagt, dann wird er entscheiden. Der Bundesrat ist in der Führung.
Aber Sie haben noch keine konkreten Ideen, was man machen könnte, um den Lohnschutz zu verbessern?
Es gibt viele konkrete Ideen, die wir seit Monaten mit den Sozialpartnern und den Kantonen diskutieren.
Unser Wohlstand hängt damit zusammen, dass unsere Wirtschaft in diesem europäischen Binnenmarkt auch exportieren kann.
Eine Kritik der Gewerkschaften, aber auch der Arbeitgeber: Bei den Spesen würden zum Beispiel polnische Arbeiter in der Schweiz nur nach polnischen Standards bezahlt. Das wäre auch eine Form von Lohndumping.
Das ist richtig. Genau dieses Element der Spesenregelung ist heute noch in Diskussion, sowohl aussen- wie innenpolitisch.
Die andere Kritik, von rechts: Die Souveränität der Schweiz ist gefährdet, wenn EU-Recht übernommen werden muss und die sogenannten fremden Richter eine grosse Rolle spielen. Was entgegnen Sie da?
Dass es der Wunsch der Schweiz ist, EU-Recht zu übernehmen, in den Bereichen, wo wir die Binnenmarktbeteiligung haben. Wir sind doch froh, wenn wir unsere Hüftprothesen in Winterthur produzieren und direkt in Lissabon oder Berlin verkaufen können. Und dass das garantiert ist, ohne dass sie fünfmal zertifiziert werden.
Aber nicht überall ist man vielleicht damit einverstanden.
Die Wirtschaft spielt schon eine grosse Rolle. Unser Wohlstand hängt damit zusammen, dass unsere Wirtschaft in diesem europäischen Binnenmarkt auch exportieren kann. Einer von zwei Franken ist in der Schweiz von unserem Export abhängig. Und in der unsicheren Welt um uns herum sind unsere Beziehungen zu den Nachbarstaaten enorm wichtig.
Es gibt nicht nur EU-Regeln zur Wirtschaft, sondern zum Beispiel auch zur Einwanderung. Dort befürchtet die SVP etwa, Regeln übernehmen zu müssen, die ihr nicht passt.
Es ist eine wichtige Zielsetzung für den Bundesrat, keine Einwanderung in die Sozialversicherung. Das war ein Leitmotiv in der Vorbereitung. Hier haben wir ganz konkrete Schritte gemacht, zusammen mit den Kantonen, die dann zuständig sind für die Kontrolle der Einwanderung.
Am Schluss wird wohl an der Urne entschieden. Sind Sie dann noch im Amt?
Ich hoffe, dass wir es schnell genug machen, dass ich noch im Amt bin und diese Volksabstimmung begleiten kann.
Das Gespräch führte Nathalie Christen.