Sie sind keine Augenweide: die 70 Strommasten, die heute zwischen Airolo und Göschenen in die Höhe ragen. Stahlkonstrukte einer Höchstspannungsleitung, die das Tessin mit der Deutschschweiz verbindet – eine Hauptschlagader des schweizweiten Übertragungsnetzes inmitten der Alpenlandschaft des Gotthardmassivs.
Ihre Tage sind allerdings gezählt: Swissgrid, die nationale Netzgesellschaft, will diese Stromleitung ab 2027 in den Boden verlegen. Genauer gesagt in die zweite Röhre des Gotthard-Strassentunnels. Ein hierzulande einzigartiges Projekt. Die Eingabe des Baugesuchs soll im Herbst erfolgen.
2029, wenn die rund 18 Kilometern langen Kabel erstmals den Strom der regionalen Wasserkraftwerke transportieren, wird damit die längste erdverlegte Höchstspannungsleitung der Schweiz in Betrieb gehen.
Swissgrid investiert 107 Millionen Franken
Hintergrund des Unterfangens: Die bestehende 220-Kilovolt-Leitung ist rund 90 Jahre alt und müsste saniert werden. Weil zeitgleich die 2. Röhre des Gotthard-Strassentunnels im Bau ist, sei die Bündelung der beiden Projekte «eine einmalige Gelegenheit», sagt Robert Widmer, Projektleiter bei Swissgrid. «In ganz Europa gibt es derzeit nichts Vergleichbares.»
In ganz Europa gibt es derzeit nichts Vergleichbares.
Künftig verlaufen drei Stromkabel durch den Gotthard – in einem separaten, begehbaren, gut zwei Meter grossen Betonkanal unter dem Pannenstreifen. Die Sicherheit von LKW-Fahrern und Automobilistinnen sei jederzeit gewährleistet, sagt Widmer. «Wenn im Tunnel etwas passiert, hat das keinen Einfluss auf die Kabelleitung.» Notfalls könnte diese auch vom Netz genommen werden.
107 Millionen Franken lässt sich Swissgrid dieses Projekt kosten. Ein Pionierwerk. Die Netzgesellschaft gehe aber keine Risiken damit ein, sagt Widmer: «Wir haben Erfahrung mit Kabeltechnik und ähnliche Leitungen sind bereits in Betrieb.» Einzig mit der Länge der Gotthard-Leitung betrete man Neuland. «Aber die technische Machbarkeit ist gegeben.»
1200 Tonnen Stahl fallen an
Ist die Leitung unter Boden dereinst in Betrieb, wird sich die Region darüber augenscheinlich verändern: Von den heute 70 Strommasten – 51 im Kanton Uri, 19 im Tessin – sollen bis auf deren vier auf der Passhöhe verschwinden. Ein Berg von 1200 Tonnen Stahl wird anfallen.
Die vorgesehene Demontage ab 2030 hat allerdings ihre Tücken: Über die Hälfte der Masten stehen auf mehr als 2000 Metern über Meer. Der Zugang zur Baustelle könnte eine Knacknuss werden; die Witterung den Arbeiten in die Quere kommen. Sind die Herausforderungen im Berg drin also dereinst gemeistert, dürften darüber einige weitere auf die Baustellen-Crew warten.