Mehr oder weniger freundliches Herbstwetter von Genf bis Romanshorn, die Berner Young Boys schnuppern an der Tabellenführung, und der Brief für den Krankenkassenwechsel liegt immer noch unfrankiert auf dem Tisch: An einem ganz normalen 22. Oktober stehen in der Schweiz die nationalen Wahlen an. Die viel beschworene «Korrekturwahl» wartet auf ihren Vollzug.
Mit müden Augen dämmert die Eidgenossenschaft in den Wahltag hinein. Doch spätestens mit der ersten nationalen Hochrechnung von 16 Uhr ist das letzte bisschen Herbstmüdigkeit abgeschüttelt: Anders als vor vier Jahren bleibt ein historisches Wahlbeben zwar aus; ein konservativer Rutsch sorgt aber dafür, dass sich die politische Tektonik im Land wieder verschiebt – und die Emotionen hochgehen.
Grüne Tristesse
Die Grünen verabschieden sich aus der politischen Nationalliga A, wie Bundeshausredaktor Dominik Meier analysiert. «Das ist ein schmerzhaftes Resultat, so ehrlich muss man sein», fasst Selma L’Orange Seigo die grüne Tristesse zusammen. «Die Klimaerwärmung geht aber nicht weg, wenn wir sie einfach ignorieren», schiebt die Co-Präsidentin der Zürcher Grünen resigniert nach.
Die Linke muss sich auch auf eine politische Klimaveränderung einstellen. Denn die SVP wird klare Wahlsiegerin – und macht ihrem Namen alle Ehre: «Es ist eine Schweizerische Volkspartei, die sich nun mit Recht wieder Volkspartei nennen kann», bilanziert Politologe Lukas Golder. Während die Volksparteien in anderen Ländern zu Klientelparteien zusammenschrumpfen, holt die SVP rund 29 Prozent der Stimmen.
Ein eisiger Wahlkampfwind
Von Feierlaune ist zunächst aber wenig zu spüren. Denn unter der Bundeshauskuppel knallt es sogleich: Sieger und Verlierer geraten sich in die Haare. SVP-Wahlkampfleiter Marcel Dettling geisselt die Grünen, die den Menschen das Steak verbieten wollten.
Grünen-Fraktionschefin Aline Trede verwahrt sich gegen den Vorwurf: Die Grünen schrieben niemandem vor, was auf dem Teller lande. Durch die Wandelhalle weht noch immer ein eisiger Wahlkampfwind.
Im bürgerlichen Sägemehl
Umso kollegialer die Stimmung in der bürgerlichen Mitte: Im politischen Sägemehl klopfen sich die Kontrahenten gegenseitig den Rücken ab. Mit «absoluter Gelassenheit» blickt Mitte-Fraktionschef Philippe Matthias Bregy dem Duell mit der FDP um Platz 3 entgegen – und beklagt die zunehmende Polarisierung durch die Zugewinne der SVP.
«Wir brauchen in diesem Land Lösungen aus der Mitte heraus», sagt Bregy. FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen stimmt zu: «Wir aus der politischen Mitte sind die Handwerker im Bundeshaus», reicht er dem Walliser Mitte-Mann die Hand.
Im Nationalrat wird die Mitte schliesslich drittstärkste Fraktion – vor der FDP. Wie weit es mit der bürgerlichen Brüderlichkeit her ist, wird sich spätestens bei den Bundesratswahlen im Dezember zeigen: Denn die Mitte könnte dann Anspruch auf den zweiten Sitz der FDP in der Regierung erheben.
Linke Sorge vor kommender Legislatur
In Genf holt das populistische Mouvement Citoyen Genevois zwei neue Sitze. In Zürich schrammt die massnahmenkritische Bewegung «Aufrecht» relativ knapp an einem Sitzgewinn vorbei. Politologe Golder schliesst: «Das ist ein Rechtsruck mit Protestcharakter.»
«Korrigiert» wurde durch die Korrekturwahl mit Rechtsdrall nichts – zumindest aus der Sicht der Linken: «Der drohende Rechtsruck macht mir grosse Sorgen», sagt SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer in der Präsidentenrunde. Und bedauert den Absturz der Grünen: So werde es schwieriger, die soziale und ökologische Schweiz zu stärken. Immerhin: Die SP darf sich über Zugewinne freuen.
Grünen-Präsident Balthasar Glättli sekundiert: «Wir müssen schauen, dass die kommende Legislatur keine verlorene Legislatur für Klima, Gleichstellung und die Beziehungen zur EU wird.» Zerknirscht gibt sich GLP-Präsident Jürg Grossen: «Das ist bitter», sagt er mit Blick auf die Verluste von sechs Nationalratssitzen. «Aber ehrlicherweise muss man auch sagen, dass wir bei den letzten Wahlen sehr hoch geflogen sind.»
Dass Politiker nicht nur hoch fliegen, sondern auch tief fallen können, weiss auch SVP-Nationalrat David Zuberbühler. Hochemotional gibt er seiner «Riesenerleichterung» über die Wiederwahl Ausdruck. «Ich habe natürlich vorausschauend ein Taschentuch eingepackt», sagt der Appenzell-Innerrhoder. Er kann es sichtlich brauchen.
Als Sieger und Verlierer nach einem langen Wahlsonntag ihres Weges gehen, ist zumindest eines klar: Das Politklima in der Schweiz dürfte sich spürbar ändern.