Wie die Schweiz politisch tickt, lässt sich gut in den einzelnen Gemeinden beobachten. Deshalb porträtiert die Bundeshaus-Redaktion sechs Gemeinden, in denen jeweils eine Partei dominiert beziehungsweise schweizweit die höchsten oder sehr hohe Wähleranteile für einzelne Parteien aufweist.
Wie ticken diese Gemeinden politisch? Was sagen die Leute der Basis? Warum ist dort gerade eine Partei besonders stark vertreten – und lassen sich daraus gar Schlüsse für den Zustand der nationalen Partei mit Blick auf den Wahlherbst ziehen?
Otelfingen (ZH): Die grünliberale Hochburg
In keiner Deutschschweizer Gemeinde wählten bei den letzten Nationalratswahlen so viele grünliberal wie in Otelfingen: 21.1 Prozent holte die GLP hier. Lange Zeit war das ehemalige Bauerndorf am Fusse der Lägern, an der Grenze zum Kanton Aargau, von der SVP dominiert: Bis in die 1970er-Jahre hatten die Bauern unangefochten die Mehrheit im Gemeinderat. 2011 kam sogar das SVP-Wahlkampfmaskottchen, Geissbock «Zottel», aus Otelfingen.
Doch da war das Bauernsterben längst im Gang: Ein Bauernhof nach dem anderen verschwand. Heute sind noch neun übrig. Dafür schoss eine Siedlung nach der anderen aus dem Boden, die Bevölkerung verdreifachte sich seit 1970 auf heute knapp 3000. Seit 1990 zählt Otelfingen denn auch offiziell zur Agglomeration Zürich.
Mit den Neuzuzügerinnen und Neuzuzügern veränderte sich die Gemeinde auch politisch: Die Neuen übernahmen in der Gemeinde immer mehr Verantwortung. Allen voran Barbara Schaffner, Gemeindepräsidentin und Grünliberale-Nationalrätin. (klem)
Disentis/Mustér (GR): Starke Verbindung zwischen Religion und der Mitte
Die Mitte – 2019 noch getrennt angetreten als CVP und BDP – erreichte bei den letzten Nationalratswahlen in Disentis im Kanton Graubünden einen Wähleranteil von 70.2 Prozent – einen der höchsten Werte in der Schweiz. Ähnlich gut schnitt die Partei in der Umgebung von Disentis ab, in anderen Gemeinden der rätoromanischsprachigen Surselva.
Der Hauptgrund der traditionellen Stärke der CVP ist die katholische Prägung der Region, für die das Kloster Disentis am Dorfeingang als Symbol gelten kann. Im konfessionell gespaltenen Kanton war in den katholischen Talschaften die Zugehörigkeit der Politiker und der wenigen Politikerinnen zur CVP lange Zeit sozusagen ein Naturgesetz – oder wie es der frühere CVP-Nationalrat Dumeni Columberg treffend formuliert: «Sie war gottgegeben.» Noch Anfang der 1970er-Jahre erreichte die CVP in der Region Wähleranteile von über 90 Prozent.
Natürlich hat der soziale Wandel auch vor Disentis nicht Halt gemacht. Die Gesellschaft ist heterogener geworden und der Stellenwert der Kirche hat abgenommen. Aber einiges von dieser natürlichen Bindung zur ehemaligen CVP scheint nach wie vor da zu sein und den Namenswechsel hin zu «Mitte» zu überdauern: Bei den kantonalen Wahlen in Graubünden im Mai letzten Jahres nämlich kam die Mitte im Klosterdorf auf stolze 73 Prozent. (vinc)
Sissach (BL): Hier sind die Grünen historisch stark
Einen Wähleranteil von 29.5 Prozent haben die Grünen vor vier Jahren im Oberbaselbieter Dorf Sissach erreicht, einer der höchsten Werte schweizweit.
Ein wichtiger Grund für die grüne Dominanz ist in den 1980er-Jahren zu suchen. Damals wurde über ein Strassenprojekt gestritten, das Sissach vom Durchgangsverkehr befreien sollte. Alle Parteien im Dorf waren dafür, die Gegnerinnen und Gegner – an der Urne immerhin 40 Prozent der Stimmenden – hatten keine politische Heimat. Sie fanden diese in einer neu gegründeten Plattform, die sich für Umweltanliegen einsetzte und später «Stächpalme» getauft wurde.
Zwar wurde der Umfahrungstunnel gebaut, doch die Stechpalme ist geblieben. Heute ist sie fast identisch mit den Grünen. Jedenfalls sind die zwei grossen Grünen-Aushängeschilder von Sissach – Ständerätin Maya Graf und Regierungsrat Isaac Reber – beide in der Stechpalme gross geworden. Graf und Reber sind ebenfalls ein wichtiger Grund für die grüne Dominanz in Sissach. Sie sind beide volksnah und fest im Dorf verankert. Ausserdem bilden sie eine breite grüne Palette ab, mit der sich viele identifizieren können. Reber könnte geradeso gut für die Grünliberalen politisieren, und auch Graf war durch ihre bäuerliche Herkunft und ihren Vater, der für die SVP politisierte, nie ein linkes Schreckgespenst. (halg)
Feldbrunnen-St. Niklaus (SO): Hier dominiert die FDP
Feldbrunnen-St. Niklaus, gleich neben Solothurn: Das sind zwei Dorfbeizen, die Aare, ein paar Vereine, eine Handvoll Betriebe – und ein Schloss aus jenen Zeiten, als die Patrizier noch Ende des 17. Jahrhunderts die Nähe zur Ambassadorenstadt Solothurn suchten.
Aber nicht primär das Schloss mit den klassischen Konzerten oder den Gesprächszirkeln locken die gutbetuchte FDP-Wählerschaft in das Dorf mit den rund 1000 Einwohnerinnen und Einwohnern – der tiefe Steuersatz dürfte ebenfalls überzeugen. Bei den Nationalratswahlen 2019 entschieden sich rund 38 Prozent der Bewohnenden für die FDP. Viele von ihnen sind im Kader der KMU im umliegenden Gewerbe- und Industriegürtel beschäftigt.
Noch Mitte des 19. Jahrhunderts war der Ort eine der ärmsten Gemeinden im Kanton Solothurn. Die Menschen lebten von der Landwirtschaft. Auch baute man hier den Solothurner Kalkstein ab. Doch dann siedelten sich Ende des 19. Jahrhunderts Vermögende an.
Nicht nur die Schlossbesitzer zahlten kräftig Steuern, auch die Industriellen, die zugezogen waren: etwa Manager Friedrich Lüthy oder Ernst Koch, deren Villen heute noch zu sehen sind. Koch setzte sich besonders für die Gemeinde ein. Sein Engagement scheint sich fortsetzen: Hier hat die FDP keine Probleme, die Posten im Gemeinderat zu besetzen. (galc)
Schangnau (BE): SVP, was sonst?
Im Emmentaler Dorf Schangnau dominiert die SVP die Politik, andere Parteien finden kaum statt. Eindrückliche 79.9 Prozent der Wählenden haben bei den letzten nationalen Wahlen 2019 SVP gewählt.
Ein Grund für die Dominanz der SVP ist die landwirtschaftliche Tradition in Schangnau. Viele Bauern sind der Meinung, dass die Schweizerische Volkspartei sich am besten für sie und ihre Interessen einsetze. Das war auch schon früher so und hat sich kaum verändert. Wie sich auch das Dorf kaum verändert hat, wie der Gemeindepräsident Beat Gerber sagt. Auch er gehört der SVP an.
Schangnau hatte in den letzten 50 Jahren immer etwa gleich viele Einwohnerinnen und Einwohner. Anders als andere Dörfer hat Schangnau nicht mit dem Problem der Abwanderung zu kämpfen. Es gebe viele junge Leute, die auswärts eine Ausbildung machten und dann zurück nach Schangnau kommen und hier eine Familie gründen, erklärt der Gemeindepräsident. Diese Leute seien von den Einstellungen ihrer Eltern und den Traditionen des Dorfes geprägt.
Schangnau hat also Nachwuchs, aber wenig Zuwanderung – und somit wenig neue Einflüsse von aussen. Das ist ein weiterer Grund für den anhaltenden Erfolg der SVP in Schangnau. (sprm)
Fontenais (JU): Seit Generationen fest in SP-Hand
Die kleine Gemeinde im hintersten Jura nahe der französischen Grenze tickt rot – seit Menschengedenken. Seit der Fusion mit der Nachbargemeinde sind die Wähleranteile der SP zwar etwas zurückgegangen, doch für den Schweizer Rekord reichts immer noch: 2019 stimmten 49.3 Prozent für die Sozialdemokraten.
Der Gemeindepräsident von Fontenais, Yves Petignat, ist parteilos, wird aber von der SP unterstützt. Für ihn gibt es hauptsächlich zwei Gründe für die rote Dominanz: Zum einen ist es die kollektive Erinnerung an harte Zeiten – in den 1920er- und 1930er-Jahren wurde die ganze Region von der Wirtschaftskrise erschüttert, Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger waren allgegenwärtig, aber auch eine grosse Solidarität. Das habe die Menschen, auch die nachfolgenden Generationen, geprägt, so Petignat.
Zum anderen wohnt im Dorf seit Jahrzehnten auch SP-Nationalrat Pierre-Alain Fridez. Eine Wahllokomotive der jurassischen SP. Er ist seit 1988 der Dorfarzt, er kennt die allermeisten Bewohnerinnen und Bewohner gut. Und sie kennen ihn – und wählen ihn.
Dass nun mit der SP-Frau Elisabeth Baume-Schneider zum allerersten Mal eine Jurassierin Bundesrätin wurde, gebe der SP im Jura zusätzlich Auftrieb, sind sich Petignat und Fridez einig. Der Jura sei endlich in Bern vertreten und werde dadurch besser wahrgenommen. (gors)