Das Wichtigste in Kürze
- Das Waadtländer Kantonsgericht hat das Strafmass gegen einen Mann bestätigt, der während des Geschlechtsverkehrs ohne Wissen seiner Partnerin das Kondom abgezogen hatte.
- Allerdings qualifizierte die zweite Instanz das Delikt nicht mehr als Vergewaltigung.
- Der Mann war im Januar vom Strafgericht Lausanne wegen Vergewaltigung zu einer bedingten Gefängnisstrafe von zwölf Monaten verurteilt worden.
Die beiden hatten sich via die Flirting-App Tinder kennenglernt. Schon nach wenigen Mails trafen sie sich in einem Restaurant, zwei Tage später dann zum Abendessen bei der Frau zu Hause. Sie wollten Sex.
Geschützten Sex, wie beide sagen. Kurz vor seinem Höhepunkt wollte der Mann dann aber ungeschützten Sex. Die Frau lehnte ab. Trotzdem stellte sie wenig später fest, dass der Mann den Akt ohne das Kondom beendet hatte.
Für die Frau war das schlimm: Sie fürchtete nicht nur eine Schwangerschaft, sondern auch eine Ansteckung mit HIV. Und weil der Mann einen Aids-Test verweigerte, musste sie eine präventive Therapie mit schweren Nebenwirkungen absolvieren. Sie zeigte den Mann an – juristisch ein heikler Fall.
Juristisches Neuland
Staatsanwältin Laurence Brenlla meint, dass es in der Schweiz bisher keinen Präzedenzfall gab. Für die Staatsanwältin aber ist klar: Der Mann wusste, dass sich die Frau ungeschütztem Sexualverkehr widersetzen würde, er umging ihren Widerstand einfach, indem er das Kondom heimlich entfernte.
Das sei wie eine Vergewaltigung, so die Staatsanwältin, allenfalls eine Schändung, weil die Frau überrumpelt, getäuscht und zum Widerstand unfähig war.
Stealthing ist inakzeptabel.
Die Sicht des Angeklagten ist eine andere. Er habe das Kondom nicht absichtlich entfernt. Es sei gerissen oder irgendwie verloren gegangen. Fünf mögliche Erklärungen präsentierte er dem Gericht, das aber keine Variante für glaubwürdig hielt.
Wenn geschützter Sex verabredet sei, der Mann aber das Kondom heimlich entferne, dann sei das rechtlich eine Schändung. 12 Monate Gefängnis bedingt lautet das Urteil.
Der Anwalt der Frau ist erleichtert. «Stealthing ist inakzeptabel», meint Baptiste Viredaz. Der Entscheid sei wichtig, weil das Erzwingen von ungeschütztem Verkehr offenbar eine verbreitete Praxis sei. Viredaz reichte dem Gericht den Fachartikel der amerikanischen Juristin Alexandra Brodsky ein. Der Artikel berichtet davon, dass an US-Universitäten das «Stealthing» sehr häufig vorkomme.
Problematik weitgehend unerforscht
Und in der Schweiz? Das Online-Portal «20 Minuten» hat eine Umfrage durchgeführt. Ergebnis: 8 Prozent der Teilnehmenden erklärten, sie seien Opfer von ungewolltem Sex ohne Kondom geworden, fünf Prozent erklärten, sie hätten schon heimlich das Kondom entfernt.
Bei der Genfer Beratungsstelle für vergewaltigte Frauen meint eine Mitarbeiterin, es gebe keine verlässlichen Zahlen zur Häufigkeit, aber das Problem sei sehr real und die Frauen erlebten den Übergriff als Vergewaltigung.
Streng juristisch ist das Vorgehen keine Vergewaltigung. Aber mit zwölf Monaten bedingt hat das Gericht ein Urteil gefällt, das klar macht: das Erzwingen von ungeschütztem Sex ist kriminell.