Seit 2012 hat Wien wieder einen Eruv, wie es ihn in der österreichischen Hauptstadt bereits bis 1938 gegeben hatte. Wie die symbolische Abgrenzung eines Stadtgebiets zur einfacheren Einhaltung der Sabbatgesetze konkret aussieht und wie sie orthodoxes jüdisches Leben erleichtert, schildert Salomon K.* von der örtlichen Israelitischen Kultusgemeinde.
SRF News: Eine 25 Kilometer lange «Grenze» umfasst heute als Eruv einen grossen Teil der Wiener Innenstadt. Wie muss man sich diese Begrenzung vorstellen?
Salomon K: Wir sprechen hier weniger von einer physischen Grenze, sondern von einer symbolischen Umzäunung. In Wien hatten wir das Glück, dass 90 Prozent dieser «Umzäunung» bereits gegeben waren.
Es gibt die Donau als natürliche Abgrenzung auf einer Seite und wir haben die Bahn, die die Stadt zum grossen Teil auf einem Wall umfährt. Und wo dieser Wall nicht vorhanden ist, gibt es die ohnehin vorhandenen Zäune zur Absperrung der Gleise, die auch uns als Umzäunung dienen können.
Wirklich sichtbar ist der Eruv also nicht?
Ein Laie wird ihn in der Stadt niemals bemerken. Auch dort, wo wir den Eruv gewissermassen schliessen mussten, waren wir sehr darauf bedacht, ihn ins Stadtbild verschwinden zu lassen. Sowohl durch die Platzierung als auch durch die farbliche Anpassung beispielsweise der Seile an Fassaden.
Planung und Umsetzung sollten so diskret wie möglich erfolgen.
Meiner Ansicht nach ist es unbedingt sinnvoll, das Ganze so diskret wie möglich anzugehen. Sowohl während der Planungsphase als auch bei der Umsetzung und Erhaltung. So gibt es weder einen Anlass zu Widerstand aus der Bevölkerung noch Angriffsflächen für antisemitische Angriffe oder Vandalismus gegen zusätzlich zu den gegebenen Begrenzungen erstellten Teilen des Eruv.
Wie viele solcher zusätzlicher Massnahmen waren denn im Fall des Wiener Eruv notwendig?
Es gibt hunderte Stellen, für die wir Lösungen finden mussten. Beispielsweise wo begrenzende Gleise von Brücken überquert werden oder wo es Unterführungen gibt. Häufig konnten wir zwischen Strassenlampen Seile spannen. Doch nicht überall war es so einfach. Wir standen mehrmals kurz vor dem Aus.
Oft hatten wir auch Glück. Wie bei der Autobahnbrücke, über die man aus Sicherheitsgründen auch in grosser Höhe nicht einfach ein Seil als symbolische Begrenzung spannen kann. Just zum Zeitpunkt unserer Abklärungen musste dann ein Wegweiser über die Fahrbahnen gebaut werden. Mit seinen zwei Pfosten auf beiden Seiten der Autobahn war er auch gewissermassen als Tor des Eruv perfekt für uns.
Ohne den Goodwill der Behörden geht es nicht.
Dazu sind uns die Stadtbehörden über alle Abteilungen sehr entgegengekommen. Es braucht den Goodwill aller Verantwortlicher in Bereichen wie Strassenbeleuchtung, Strom- und Wasserversorgung oder Tram- und Bahnverkehr. Ohne diese Bereitschaft der Behörden ist ein solches Vorhaben nicht durchführbar.
In Basel soll der Eruv die Stadt für orthodoxe Juden attraktiver machen. Ist dies in Wien gelungen?
Ganz bestimmt, zu mehr als Hundert Prozent! Es gab ein enormes Aufleben des gesamten jüdischen Lebens. So sind kinderreiche Familien am Samstag nicht mehr zu Hause «eingesperrt», weil der Vater keinen Kinderwagen schieben oder kein Kind tragen darf, genauso etwa ältere Menschen im Rollstuhl.
Heute können sich in Wien auch orthodoxe Familien am Sabbat gegenseitig besuchen, Frauen können zum Gebetsdienst in die Synagoge gehen. Aber auch bei ganz profanen Dingen erleichtert der Eruv das Leben orthodoxer Juden enorm, sei es nur wenn es um das Tragen einer Flasche Cola geht. Ein Eruv bietet der orthodoxen jüdischen Bevölkerung einen sehr starken Anreiz.
Dafür muss man dann aber auch innerhalb dieses Bereichs wohnen.
Genau deshalb haben wir den Eruv in Wien mit insgesamt 25 Kilometern auch sehr grosszügig umzogen. Es ist sicher sinnvoll, sich nicht auf ein paar wenige Strassenzüge zu beschränken. Auch wenn es wegen der religiösen Gesetze kaum möglich ist, eine gesamte Stadt zum Eruv zu machen. Im Wesentlichen kommt es bei der Planung der Grösse auf städtebauliche Gegebenheiten an. Dadurch ergibt sich diesbezüglich vieles von selbst.
Das Interview führte Bálint Kalotay.