Es ist eine Ohrfeige für die Schweiz: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) rügt die Schweiz wegen ihrer Gesetzgebung bei der Hinterbliebenenrente. Die sieht vor, dass ein verwitweter Vater keine Rente mehr erhält, sobald seine Kinder volljährig sind. Eine Witwe hingegen erhält ihre Rente ein Leben lang.
Der EGMR hält fest: Das ist eine unzulässige Ungleichbehandlung. Die Schweiz kann den Entscheid an die grosse Kammer des EGMR weiterziehen. Tut sie das nicht, ist das Urteil rechtskräftig. Für die Schweiz heisst das: Sie muss das Gesetz anpassen.
Veraltete Sichtweise im Gesetz
Die heutige gesetzliche Regelung geht von der Annahme aus, dass Frauen nicht erwerbstätig sind und beim Tod ihres Ehemanns deshalb lebenslang auf die Rente angewiesen sind, Männer hingegen auch nach dem Tod ihrer Ehefrau für den eigenen Lebensunterhalt aufkommen können. Der EGMR hält fest, dass diese Sichtweise nicht mehr den heutigen Gegebenheiten entspreche.
Die aktuelle Reformvorlage der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV 21), die der Bundesrat vorgelegt hat, sieht bei der Witwen- und Witwerrenten allerdings keine Änderung vor. Nach dem Urteil aus Strassburg gibt es jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder die Frage findet noch Eingang im Reformvorhaben AHV 21. Oder dann bei einem nächsten.
Unabhängig davon, wann das Parlament dieses heisse Eisen angeht, die wichtigste Frage ist: Werden die Witwerrenten gegen oben angeglichen oder die Witwenrenten gegen unten? Für Letzteres spricht die prekäre finanzielle Lage der AHV: Würden verwitwete Mütter nur bis zur Volljährigkeit der Kinder eine Rente erhalten, entlastete dies die Versicherung.
Tiefe PK-Renten als Gegenargument
Dagegen spricht aber ein Blick auf die berufliche Vorsorge. Denn da besteht noch immer ein enormer Unterschied – hier zulasten der Frauen. 59 Prozent der erwerbstätigen Frauen arbeiten Teilzeit und noch immer unterbrechen viele ihre Erwerbstätigkeit wegen der Kinder. Daraus resultieren deutlich tiefere Pensionskassenrenten: Die mittlere PK-Rente von Frauen ist nur etwa halb so hoch wie diejenigen der Männer.
Für verwitwete Frauen, die lange Teilzeit gearbeitet oder ihre Erwerbstätigkeit unterbrochen haben, hätte eine gekürzte Witwenrente entsprechend gravierende Folgen. Die Diskussion rund um die Witwen- und Witwerrente zeigt, wie sehr AHV und berufliche Vorsorge ineinandergreifen und deshalb kaum unabhängig voneinander reformiert werden können.
An dieser Aufgabe sind bisher schon mehrere Bundesräte gescheitert, was den Reformvorhaben auch nicht dienlich war. Dabei drängt die Zeit.