Das Fuorn-Wolfsrudel beim Schweizerischen Nationalpark im Engadin darf vollständig geschossen wurden. Dies wurde Ende September bekannt. Es ist das jüngste Beispiel für die Diskussion rund um den Wolf. Denn kaum beantragte der Kanton Graubünden den Abschuss beim Bund, wehrten sich mehr als 35'000 Menschen mit einer Petition. Rund um den Wolf gehen die Emotionen hoch. Warum? Nikolaus Heinzer von der Universität Zürich hat Antworten.
SRF News: Welche Beziehung hatten Mensch und Wolf früher zueinander, als der Mensch das Tier noch domestiziert hat?
Nikolaus Heinzer: Mensch und Wolf waren sich wohl schon immer ähnlich und nah. Es gibt die These, dass sie irgendwann angefangen haben, miteinander zu jagen. Auch die Entstehungsgeschichte von Rom hat mit Wölfen zu tun. Romulus und Remus wurden von einer Wölfin aufgezogen. In Europa, aber auch in Nordamerika und Zentralasien waren die Wölfe seit jeher wichtige Figuren, die man irgendwie bewunderte und teils als Verbündete, teils auch als Konkurrenten sah. Diese Ambivalenz war schon immer Teil der Beziehung zwischen Mensch und Wolf.
Mensch und Wolf sind sich nahe – auch wegen der ähnlichen sozialen Strukturen?
Ja. Wölfe leben gleich wie die Menschen in sozialen Gruppen, wie der Familie. Auch verteidigen Wölfe nach aussen ihre Gebiete. Innerhalb der «Familie» verhalten sich die Wölfe – gleich wie die Menschen – solidarisch.
Warum hat sich nach dem Mittelalter die Sichtweise auf den Wolf verändert?
Das Image des Wolfs kippte insbesondere im 17. Jahrhundert während des Dreissigjährigen Kriegs. Die Menschen waren so sehr mit dem Krieg beschäftigt, dass sie kaum mehr Zeit hatten, sich um das Vieh zu kümmern. So wurde es auf der Weide alleine gelassen, was für die Wölfe ein gefundenes Fressen war. Die Raubtiere kamen wieder näher an die Siedlungen und fokussierten sich vermehrt auf Nutztiere.
Der Mythos von der menschenfressenden Bestie hat sich in den Köpfen festgesetzt.
Der Gipfel war dann, dass sich Wölfe vereinzelt auch auf den Schlachtfeldern an Menschenleichen gütlich getan hatten. Dieses Bild prägte sich ein und der Mythos von der menschenfressenden Bestie setzte sich in den Köpfen fest. Hinzu kommen die aktuellen Geschichten über den Wolf. Zum Beispiel das Märchen vom Rotkäppchen und dem bösen Wolf. Da bot sich die Figur als das, wovor wir Angst haben – als das, was gefährlich ist.
Wie veränderte sich die Beziehung zwischen Mensch und Wolf später im 18. Jahrhundert?
Der Mensch breitete sich flächenmässig aus, rodete Wälder und verdrängte dadurch den Wolf sowie andere wildlebende Tiere in die Peripherien Europas. Dies schürte weitere Konflikte. Der Wolf wurde zum Gejagten. In Mitteleuropa, in der Schweiz, in Deutschland und Frankreich wurde der Wolf damit systematisch ausgerottet. Das Gefühl stieg, die wilde Natur zu dominieren und damit den Fortschritt voranzutreiben.
Heute haben alle eine Meinung zum Wolf. Wie tief sind die Gräben wirklich?
Es gibt sehr viel Misstrauen und Enttäuschungen. Es sind aber Gräben, die schon vor dem Wolf bestanden haben und jetzt durch den Wolf neu und auch intensiver diskutiert werden. Bei diesen Gräben geht es um Machtverhältnisse, um politische Macht. Wer kann einen politischen Diskurs bestimmen? Dann geht es darum, welche Natur oder Wildnis der Wolf zurück in die Schweiz bringt.
Beide Seiten haben das Gefühl, sie stehen in der Defensive.
So glauben die Gegner, das Wildtier bringe eine Wildnis zurück, die ein Zusammengehen mit der Kulturlandschaft verunmöglicht, und die Befürworter glauben, dass der Wolf eine Wildnis bringt, die sehr wohl in der Landwirtschaft ihre Nischen findet. Letztlich haben beide Seiten das Gefühl, sie stehen in der Defensive.
Das Gespräch führte Marc Melcher.