Der verstorbene Zürcher Kinderarzt Remo Largo wurde bekannt durch Bücher wie «Babyjahre» und «Kinderjahre». Für viele Eltern sind sie eine Art Erziehungsbibeln – und das nicht nur in der Schweiz. Largo sei so gut bei den Eltern angekommen, weil er seine Erkenntnisse auf einfache und verständliche Art vermittelte, sagt die Pädagogin Cornelia Kazis.
SRF News: Remo Largo hat mit seinen Ratgebern ein sehr breites Publikum erreicht. Was hat er dabei richtig gemacht?
Cornelia Kazis: Er war ein Brückenbauer. Als hervorragender Entwicklungsforscher hat Remo Largo nie eine distanzierte Forschungssprache gesprochen. Er hat sich stets sehr einfach ausgedrückt und geschrieben und komplexe Vorgänge so verständlich gemacht.
Er schenkte Eltern viel Vertrauen, was die natürliche Entwicklung von Kindern angeht.
Auch wandte er sich an Eltern, die ein Wunschkind hatten – und so Gefahr liefen zu denken, ein Wunschkind sei ein Kind nach Wunsch. Doch auch Wunschkinder schreien nachts, können einen ärgern und Sorgen bereiten. Largo beruhigte betroffene Eltern, indem er ihnen viel Vertrauen schenkte, was die natürliche Entwicklung von Kindern angeht. Er hat aber nie Ratschläge gegeben – sein Fokus war es, den Eltern die Augen dafür zu öffnen, was ein Kind wirklich ist.
Largo hielt nichts von Schulnoten. War seine Grundthese also, dass sich Kinder ganz ohne Leistungsdruck entwickeln können sollen, ohne Normen erfüllen zu müssen?
Absolut. Er hielt ein grosses Plädoyer für die pädagogische Tugend, Geduld und für die Vielfalt unter den Kindern. Er war gegen generelle Normen und für das Aufbrechen der engen entwicklungspsychologischen Normen, die den Eltern so viel Kopfzerbrechen machen.
Largo näherte sich der anthroposophischen Lehre mit ihrer Vorstellung davon, was gutes Aufwachsen ist.
Largo kritisierte nicht nur die Schulnoten, sondern ganz allgemein die Schule und forderte die freie Schulwahl. Er näherte sich damit der anthroposophischen Lehre an mit ihrer Vorstellung davon, was gutes Aufwachsen ist. Damit machte er sich nicht nur Freunde.
Hat die Kritik am Leistungsdruck auf Kinder, der in der Gesellschaft herrscht, etwas bewirkt?
Im individuellen, familiären Zusammenhang konnte Largo wohl viel zur Beruhigung, Entschleunigung und Gelassenheit beitragen. Zivilisatorisch gesehen war er jedoch ein grosser Verzweifler ob der unerbittlichen Leistungsnormen in unserer Gesellschaft.
Largo war ein Verfechter des natürlichen Aufwachsens der Kinder.
Er wurde im Zusammenhang mit der Entwicklung von Kindern nicht müde darin, das afrikanische Sprichwort «das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht» zu zitieren. Entsprechend war er ein Verfechter des natürlichen Aufwachsens der Kinder – wenn möglich nicht in der Kleinfamilie, sondern in grösseren Zusammenhängen, mit anderen Kindern und Erwachsenen wie etwa Nachbarn.
Sie kannten Largo persönlich: Was für ein Mensch steckt hinter diesen Büchern, die in so vielen Haushalten zu finden sind?
Er war ein leiser Kämpfer, ein sanfter Mensch. Er hatte lebenslang auch selber Zweifel und blieb ein Forscher. Er war kein Besserwisser, aber ein sehr guter Zuhörer. Largo flanierte oft mit einem Barett auf dem Kopf durch die Stadt – er war ein sehr angenehmer, ruhiger und zugänglicher Mensch. Er war in keinster Weise eingebildet oder arrogant – trotz seines weltweiten Erfolgs. In seiner ganzen ausgestrahlten Ruhe war er aber auch unbeirrbar in seinen Gedanken und seinem Wollen.
Das Gespräch führte Susanne Stöckl.