Seit Bekanntwerden von über 1000 Missbrauchsfällen in den letzten 70 Jahren brodelt es in der römisch-katholischen Kirche. Es hagelt Kirchenaustritte.
Erste Zahlen gibt es aus den vier grössten Zürcher Kirchgemeinden Zürich, Winterthur, Uster, Dübendorf, die zusammen rund 145'000 Mitglieder zählen. In den letzten zwei Wochen haben hier 778 Menschen ihren Austritt gegeben. Das sind so viele, wie normalerweise innert drei Monaten.
Zürcher Pfarreien ernüchtert
Hella Sodies ist Co-Leiterin der Pfarrei Greifensee (ZH), welche zur Kirchgemeinde Uster gehört. Sodies ist nach dem neusten Missbrauchsskandal in der römisch-katholischen Kirche ernüchtert.
Sodies und ihr Team wollen für alle Menschen da sein, in ihrer ganzen Vielfalt. «Wenn die Menschen nicht mehr spüren, dass wir auf ihrer Seite stehen, dann wird die katholische Kirche früher oder später eine Männersekte», sagt Sodies. «Dann bleiben nur diejenigen übrig, die sich mit dem jetzigen System, dem Vatikan verbunden fühlen. Und das ist an der Basis so gut wie niemand mehr.»
Wir würden uns wünschen, dass man zum Thema Sexualmoral nicht mehr viel sagt. Das sabotiert unsere Arbeit an der Basis.
Jugendseelsorger Jonathan Gardy, mit dem Sodies eng zusammenarbeitet, spürt, wie sich Jugendliche von der Kirche distanzieren. Gerade auch die Haltung der katholischen Kirche gegenüber Homosexuellen werde nicht verstanden.
Angesichts der grossen Zahl an Austritten wäre eigentlich nun ein Zeichen von den Bischöfen wichtig. Doch Gardy glaubt nicht daran: «Vom Bistum erwarten wir nicht mehr viel. Wir würden uns wünschen, dass man zum Thema Sexualmoral nicht mehr viel sagt. Das sabotiert unsere Arbeit an der Basis.»
Unmut auch in St. Gallen
Auch in der Kirchgemeinde St. Gallen traten in den letzten zwei Wochen 120 Menschen aus, fünfmal mehr als normalerweise in der gleichen Zeit. Es sei der Preis, den man zahlen müsse für die Studie zu den Missbräuchen, bedauert Armin Bossart, Präsident des Kirchenverwaltungsrats St. Gallen. Jetzt sei es an der Zeit, endlich hinzuschauen.
Dennoch bedauert Bossart die Austritte sehr. Denn dadurch fielen Steuereinnahmen weg. Und so habe die Kirche weniger Geld für ihr gesellschaftliches Engagement, beispielsweise für Leute am Rande der Gesellschaft.
Bossart: «Letztlich funktioniert dieses Zeichen nicht, ich glaube, es trifft die Falschen. Es gibt so viele Seelsorgende, die sich sehr engagieren, und wenn ihnen die Mittel fehlen, leidet dieses Engagement.»
Es gibt so viele Seelsorgende, die sich sehr engagieren, und wenn ihnen die Mittel fehlen, leidet dieses Engagement.
In Uster sieht man das ähnlich. Der Präsident der katholischen Kirchgemeinde, Albin Mitsche, gibt zu bedenken, dass 85 Prozent der Gelder direkt in die Pfarrei fliessen, damit engagierte Seelsorgerinnen und Seelsorger wie Hella Sodies und Jonathan Gardy ihre Arbeit machen können. Wichtig sei nun, auf die Mitglieder der Pfarrei zuzugehen, «damit die Leute spüren, dass wir etwas bewegen wollen».
Ungehorsam gegenüber den Oberen, die sich nicht bewegen wollen, ist laut Mitsche ein Weg zur Veränderung. Die Aufhebung des Pflichtzölibats wäre eine Idee. Oder die Möglichkeit einer kirchlichen Trauung, respektive Begleitung, von gleichgeschlechtlichen Paaren. «Das Bistum muss Veränderungen zeigen.»
Hella Sodies, die Co-Pfarreileiterin der Pfarrei Greifensee, lebt diesen Ungehorsam schon jetzt. Denn: «Nur freie Menschen sind gute Seelsorgerinnen und Seelsorger».