Die Sprengung, die am Mittwochvormittag das Urner Dorf Göschenen erschütterte, war bloss Show. Rund 150 geladene Gäste wohnten dem Spatenstich bei, mit dem die Bauarbeiten am Nordportal des neuen Gotthard-Strassentunnels offiziell eröffnet wurden – auch wenn sie schon vor Monaten begonnen haben und der Festakt lediglich wegen der Corona-Pandemie nicht früher stattfinden konnte.
Dennoch schafft es Göschenen mit diesem Knall ins Bewusstsein der Schweiz. Denn dieses Dorf, in dem viele Läden und Gaststätten aufgegeben und auch die Post ihre Schalter geschlossen hat, wird zu einer Jahrhundertbaustelle. Über zwei Milliarden Franken werden bis 2029 verbaut, gegen 200 Bauarbeiter und Ingenieurinnen werden sich temporär in Göschenen mit seinen knapp 500 Einwohnerinnen und Einwohnern niederlassen. Gemeindepräsident Peter Tresch sagt schmunzelnd: «Die Leute sagen, Göschenen sei ein verschlafenes Dorf. Aber die nächsten Jahre wird es mit Schlafen nicht immer einfach.»
Grossbaustellen bringen Boom nach Göschenen
Für Göschenen seien das gute Nachrichten, sagt Urban Camendzind, Urner Landammann und damit Vorsteher der Kantonsregierung. «Die guten Zeiten von Göschenen waren immer dann, wenn gebaut wurde – dazwischen wurde es wirtschaftlich jeweils schwierig.»
Die guten Zeiten von Göschenen waren immer dann, wenn gebaut wurde.
Das begann mit dem Bau des Eisenbahntunnels in den 1870er-Jahren, als die Bevölkerung von gut 400 auf fast 3000 Personen anschwoll, um danach wieder rapide zu sinken. Mit den Arbeiten zur Elektrifizierung der Gotthardbahn in den 1920er-Jahren gings erneut aufwärts mit dem Dorf, einen weiteren Boom erlebte es mit dem Bau des Strassentunnels in den 1970er-Jahren. Spätestens mit der Eröffnung des Basistunnels 2016 wurde es wieder sehr still in Göschenen – die direkten Züge in den Süden flitzen seither bereits bei Erstfeld in den Berg.
Kein Wunder, erhofft sich Göschenens Gemeindepräsident Peter Tresch von der neuen Baustelle wirtschaftliche Impulse. Die Tunnelarbeiter werden im Dorf einkaufen und Lokale besuchen, zudem entstehen Arbeitsplätze für Einheimische – etwa im neuen Informationszentrum oder der Kantine für die Tunnelarbeiter.
Göschenen will Schwung für Zukunft nutzen
Tresch denkt aber bereits über die Bauzeit hinaus. So sei eine Unterkunft für die Mineure so konzipiert, dass sie weitergenutzt werden könne, wenn die Arbeiter weitergezogen sind; denkbar seien eine Jugendherberge oder Wohnungen für Betagte. Auch das Informationszentrum soll weiter genutzt werden, etwa für Ausstellungen.
Tresch hat dabei ein weiteres Projekt im Hinterkopf: jenes der «Verkehrsdrehscheibe Göschenen». Der Bahnhof Göschenen soll umgebaut werden, damit Touristinnen und Touristen das Ferienressort in Andermatt besser erreichen können. Im Gespräch ist auch eine Seilbahn direkt ins dortige Skigebiet. «Darum wollen wir, dass nach der Baustelle etwas bleibt», sagt er. «Das hilft uns, zu einem Ort zu werden, an dem die Leute nicht einfach umsteigen, sondern auch mal ein paar Franken ausgeben.»
Doch zunächst muss Göschenen mit dem Lärm der Baustelle klarkommen, mit der Staubentwicklung, dem Verkehr. «Letztlich überwiegt im Dorf aber die Freude», sagt Gemeindepräsident Tresch. «Zum Beispiel darüber, dass neue Leute hierherkommen und es interessante Kontakte gibt.»
Dass unter den Bauarbeitern potenzielle Neuzuzüger sind, glaubt Tresch jedoch weniger. «Es würde mich freuen, aber die Erfahrungen von früheren Baustellen zeigen eher das Gegenteil – nämlich, dass die eine oder andere Einwohnerin mit einem der Mineure wegzieht.»