Es war der Tipp eines Informanten, der den US-Journalisten Byron Tau nicht mehr losliess: Das US-amerikanische Verteidigungsministerium soll im grossen Stil Handydaten kaufen. Darunter auch Standortdaten, welche zu Werbezwecken über zahlreiche Apps und Webseiten geteilt werden. «Mir wurde gesteckt, dass es sich zum Beispiel um Daten von Wetter-Apps handelt und dass diese systematisch zur Überwachung eingesetzt werden», so Tau.
Kann das sein, das Werbenetzwerk – ein Überwachungsapparat? Tau kann belegen: Ja – und erst noch ganz legal, wie er in der SRF-Podcastserie «Alles akzeptiert – die Cookiefalle» erläutert.
Datenhandel mit Missbrauchspotenzial
Gefüttert wird der Überwachungsapparat durch Standortdaten, welche Webseiten und Apps mit Werbefirmen teilen. Wer auf dem Handy viele Apps installiert hat, die den genauen Standort nutzen, und beim Surfen viele Daten teilt, bei dem steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der eigene Standort in dieses System einfliesst.
Investigative Berichte von US-Journalist Byron Tau
Cybersecurity-Experten und -Expertinnen sind sich einig: Sind Nutzerdaten mal mit den aufgeführten Partnern von Webseiten und Apps geteilt, lässt sich nicht mehr nachvollziehen, wo sie überall landen. Dass sie am Ende sogar von verschiedenen Geheimdiensten genutzt werden, kann Byron Tau mit zahlreichen Dokumenten und Insiderberichten belegen. Er hat sie unter anderem in seinem neuen Buch «Means of Control» publiziert.
Bei einer seiner Recherchen steht die amerikanische Datenhandelsfirma Uber Media im Zentrum, welche 2010 unter anderem Namen gegründet wurde. Das Gründungsteam wollte ursprünglich Daten der Social-Media-Plattform Twitter, heute X, nutzen, um daraus Informationen zu gewinnen, um sie an Marketingfirmen zu verkaufen.
200'000 Daten pro Sekunde
Doch einmal angeschlossen ans internationale Werbenetzwerk, realisierte die Firma, dass sich ihr neue Möglichkeiten auftaten: den Handel mit Werbedaten. Also wurden immer mehr Daten gesammelt von Nutzerinnen und Nutzern aus aller Welt – bis zu 200'000 pro Sekunde.
«Auf diesem Weg erhielten sie einen ziemlich umfangreichen Datensatz über Bewegungen von Smartphone-Geräten weltweit. Das war ihr Geschäftsmodell», erklärt Byron Tau. Es waren riesige Datenmengen, die Uber Media zu Geld machen wollte. Doch wer sollte diese Daten kaufen wollen?
Die Geheimdienste und der Werbemarkt
Zur gleichen Zeit, 2016, entdeckten US-Geheimdienste den Werbemarkt als mögliche Quelle für Daten, die sie zur Überwachung nutzen könnten. Sie hatten nach den Terroranschlägen von New York im Jahr 2001 mutmasslich ein grosses, weltweites Abhörsystem aufgebaut. Doch dann kam Edward Snowden.
Nach den Enthüllungen des Whistleblowers über die weltweiten Überwachungs- und Spionagepraktiken der Geheimdienste versiegten zahlreiche Abhörkanäle, weil zahlreiche Unternehmen begannen, ihren Internetverkehr zu verschlüsseln.
Wladimir Putin tracken
Ein Mitarbeiter eines Zulieferers des US-Verteidigungsministeriums kontaktierte Uber Media, zunächst als NGO-Mitglied getarnt, um testweise an Daten zu gelangen. Es kam zu verschiedenen Treffen und Demovorführungen, wie Byron Tau in seinem Buch ausführt.
Die Bewegungen höchster politischer Führungspersonen lassen sich via Standortdaten tracken.
Im Rahmen einer solchen Demovorführung gelang es offenbar, den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu tracken. Daten seiner engsten Mitarbeitenden, von Fahrern, Bodyguards und politischen Vertrauten, verrieten den Standort Putins, wie Byron Tau erzählt: «Es glich einer Offenbarung, dass sich sogar die Bewegungen der höchsten politischen Führungspersonen der Welt via Standortdaten tracken lassen.»
Die Demovorführung stiess auf Begeisterung. US-Geheimdienste begannen in der Folge damit, grössere Datenmengen und Tools von Uber Media zu kaufen. Zunächst noch unter NGO-Tarnung, später offen.
Um dies herauszufinden, hat Journalist Byron Tau nicht nur mit zahlreichen Insiderinnen und Insidern gesprochen, sondern auch über Jahre hinweg Dokumente herausgeklagt, die seine Vermutungen belegen. Seine ausführlichen Recherchen weisen darauf hin, dass US-Geheimdienste und Sicherheitsbehörden Daten aus dem Werbemarkt systematisch zur Spionage kauften und einsetzten, während Uber Media an diesem Geschäft verdiente.
Als Byron Tau im «Wall Street Journal» darüber berichtete, wurde der Firma von der Werbeindustrie zwar der Datenhahn zugedreht. Doch Uber Media war kurz zuvor von einer anderen Firma aus Singapur aufgekauft worden.
Neue Firma, gleiches Geschäftsmodell
Unter dem Namen Near Intelligence konnte das Unternehmen weiterhin auf dem Datenmarkt agieren und die Geheimdienste und Sicherheitsbehörden mit Daten bedienen – und noch mehr als das: Near Intelligence verkaufte laut Tau Daten an alle, die genug dafür bezahlten. Die Firma mischte auch bei der aufgeladenen politischen Debatte in den USA um das Abtreibungsgesetz mit. Als viele US-Bundesstaaten in den letzten zwei Jahren Abtreibungen verboten haben, verkaufte Near Intelligence Daten an Abtreibungsgegnerinnen und -gegner: Daten von Personen, die sich in Abtreibungskliniken aufhielten.
Player aus dem Lager der Abtreibungsgegner nutzten die Daten, um gezielt Werbeanzeigen an Mitarbeitende und Besucherinnen von Abtreibungskliniken auszuspielen – mit dem Ziel, deren Entscheidungen und Handlungen zu beeinflussen. «Vielleicht ist es noch nicht zu spät, Ihre Schwangerschaft zu retten», hiess es etwa in einer Anzeige der Anti-Abtreibungskampagne, die Frauen gezeigt wurde, welche zuvor eine Abtreibungsklinik besucht hatten.
Near Intelligence wagte 2023 den Börsengang und wurde als Milliardenunternehmen bewertet. Doch als Tau erneut berichtete, dass das Unternehmen Daten ohne Zustimmung der Nutzenden sammle und verkaufe – darunter auch Millionen von Datenpunkten aus Europa – schritten die Behörden ein. Es folgten Untersuchungen und die Firma ging Ende 2023 Konkurs.
«Es ist sehr wahrscheinlich, dass Near Intelligence bis dahin auch Daten von Schweizerinnen und Schweizern gesammelt hat», gibt Byron Tau im SRF-Podcast zu bedenken. Das Unternehmen war auf vielen reichweitenstarken Apps und Webseiten als sogenannter «Partner» aufgeführt.
Legale Art der Datenbeschaffung
Tau hält es zudem für möglich, dass auch der Schweizer Nachrichtendienst des Bundes Daten aus dem Werbemarkt kauft und nutzt. Andere europäische Länder wie die Niederlande oder Norwegen hätten dies bereits zugegeben. Dazu kommt: Diese Art der Datenbeschaffung ist wohl völlig legal, wie sich in der Botschaft zum Nachrichtendienstgesetz zeigt. Gemäss dem Dokument ist es dem Nachrichtendienst nämlich erlaubt, Datensätze von Privaten bewilligungsfrei zu erwerben und einzusetzen.
Die Geschichte des Unternehmens Near Intelligence ist derweil noch immer nicht zu Ende: Mittlerweile wurde die Firma vom Unternehmen Azira übernommen. Noch immer teilen viele Schweizer Webseiten die Daten ihrer Nutzer mit Azira.
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