Die katholische Kirche befindet sich seit Langem in einer Imagekrise. Missbrauchsfälle und Skandale erschüttern die Institution, was zu einer zunehmenden Distanzierung in der Schweizer Gesellschaft geführt hat. Trotz jahrelanger Bemühungen, den Mitgliederschwund aufzuhalten, bleiben die Austrittszahlen hoch. Dies zeigt auch eine aktuelle Umfrage.
Wie kann die katholische Kirche Vertrauen zurückgewinnen? Welche Rolle spielt die Religion in der heutigen Gesellschaft? Eine Expertenrunde hat Ihre Fragen zur Kirche und zum Glauben von 15 bis 16:30 Uhr live im Chat beantwortet.
Chat-Protokoll:
Weshalb werden sexuelle Übergriffe so lange, wie möglich Tod geschwiegen? Statt zu handeln? Das Zölibat sollte dringend abgeschafft werden
Simon Spengler: Das ist tatsächlich ein unverzeihliches Übel! Gott sei Dank sind die Zeiten vorbei, wo Kirchen-Chefs solche Verbrechen, ohne etwas befürchten zu müssen, vertuschen konnten. Nicht zuletzt, weil ihnen die Medien jetzt konsequent auf die Finger schauen. Aber einfach den Zölibat abschaffen, reicht meines Erachtens nicht. Er sollte freiwillig sein. Ausserdem gibt es leider auch in der protestantischen Kirche Missbräuche, auch ohne Zölibat. Das Problem liegt tiefer in einer unsäglichen Doppelmoral.
Haben Sie auch manchmal das Gefühl, dass die Religion sehr stark unter Beschuss ist. Wie sollte man als Gläubiger damit umgehen?
Miriam Rose: Vielen Dank für Ihre Frage. Zunächst würde ich Sie ermutigen, sich darauf zu besinnen, was Ihnen an Ihrem Glauben wichtig ist, was Sie trägt und wie Sie das leben möchten. Dann ist es wichtig, sich mit anderen Glaubenden über den Glauben, über Zweifel und Schwierigkeiten auszutauschen. Das kann beispielsweise an Besinnungstagen stattfinden oder an Bibelabenden. Wenn man in seinem Glauben (mit all den Fragen und Zweifeln) ruht, dann werden kritische Stimmen zu Glauben und Religion nicht mehr so stark als «Beschuss» wahrgenommen. Dann kann man auch ruhig und kraftvoll für den eigenen Glauben eintreten und sich gegen polemische, unfaire Kritik auch wehren. Es bleibt aber eine Herausforderung.
Guten Tag, wie erklären Sie sich den Mitgliederschwund. Ist das auch in anderen Religionen beobachtbar oder was ist genau anders?
Anastas Odermatt: Der Mitgliederschwund in den beiden grossen Schweizer Landeskirchen ist einerseits mit der Säkularisierung erklärbar. Damit ist ein längerfristiger Wandel gemeint, bei der Religion und das Religiöse an Bedeutung verlieren. Von Generation zu Generation sinkt damit der Grad an Religiosität und auch die soziale Erwartung, Mitglied bei einer Religionsgemeinschaft zu sein. Dieser Wandel und der Bedeutungsverlust sind auch bei anderen Religionen beobachtbar. Anderseits spielt aber in der Schweiz (ebenso aber auch z. Bsp. in Deutschland) auch die Missbrauchskrise und der damit einhergehende Vertrauensverlust eine grosse Rolle und führt zu entsprechenden Austrittswellen.
Wie ist das Vorgehen, um mich von der Kirche/Kirchensteuern abzumelden?
Simon Spengler: In der Schweiz reicht dafür eine schriftliche Erklärung an die Kirchgemeinde ihres Wohnorts. Also Postkarte mit Adresse und Unterschrift genügt im Prinzip schon. Die Kirchgemeinden wären allerdings in der Regel froh zu wissen, warum jemand austritt.
Guten Tag, viele Gläubige trennen zwischen persönlichem Glauben und Institution Kirche. Ist diese Entkopplung unvermeidbar?
Miriam Rose: Vielen Dank für Ihre Frage. Eine gewisse Unterscheidung zwischen persönlichem Glauben und Institution Kirche ist unvermeidlich. Glauben betrifft auch das Innerste eines Menschen. Damit ist Glauben auch immer individuell und einzigartig. Das war auch im Laufe der ganzen Kirchengeschichte so. Schade aber wäre, wenn sich der persönliche Glaube ganz von der Institution abkoppelt. Auch die Institution Kirche lebt davon, dass Menschen sich auf allen Ebenen einbringen und Kirche mitgestalten, auch kritisch mitgestalten. In den nächsten Jahren versucht die katholische Kirche hier in der Schweiz, bewusst mehr Synodalität, also Mitgestaltung und Partizipation zu leben.
Die Kirche wird oft als „veraltet“ wahrgenommen. Braucht es radikalere Reformen? Danke für den Chat.
Simon Spengler: Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Es gibt ja auch nicht wenige Gläubige, die gerade die alten Formen schätzen und genau das suchen, was andere als veraltet anschauen. Meiner Meinung nach muss Kirche viel mehr auf die verschiedenen Bedürfnisse der Menschen, ihre Sorgen und Hoffnungen, eingehen, und nicht erwarten, dass alle genau gleich angesprochen werden können. «Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen», heisst es in der Bibel. So sollten auch alle sich in der Kirche zu Hause fühlen dürfen und ihren Glauben so leben und feiern, wie es ihnen entspricht.
Liebe Damen und Herren. Welche Rolle spielt die fehlende Diversität in Kirchenstrukturen? Würden inklusivere Ansätze z. B. bei LGBTQ+-Themen helfen?
Nicole Freudiger: Tatsächlich zeigt die repräsentative Studie, die die römisch-katholische Kirche beim Umfrageinstitut Sotomo in Auftrag gegeben hat, dass die Katholikinnen und Katholiken, aber auch diejenigen, die nicht (mehr) Mitglied sind, den Umgang mit gesellschaftlichen Themen kritisieren. Dazu gehört auch die Offenheit gegenüber der LGBTIQ-Thematik. Deshalb würde ich sagen: Ja, wenn die Kirche sich da echt ändert und nicht nur annähert, würde das dem Ruf guttun. Ob es aber entscheidend ist, um einen «guten Ruf» wieder herzustellen, wage ich zu bezweifeln.
Schwierige Frage, aber ich probiere es mal: Wird das Christentum in Europa in 50 Jahren noch eine prägende Rolle spielen – oder eher zur „Privatreligion“ werden? Liebe Grüsse
Anastas Odermatt: Ja, tatsächlich schwierige Frage und mit Voraussagen ist es so eine Sache. Tendenziell ist es so, dass Religion aufgrund Säkularisierung und Individualisierung zur «Privatsache» wurde und wird. Global betrachtet nimmt die Anzahl Christinnen und Christen weltweit eher zu. Meine Vermutung ist, dass «das Christentum» in Europa in 50 Jahren tatsächlich noch eine Rolle spielen wird, einerseits als kulturelle Prägekraft, aber auch für viele Einzelpersonen individuell. Was aber sicherlich nicht mehr der Fall sein wird, ist, dass das Christentum alle anderen gesellschaftlichen Sphären durchdringt, wie es vielleicht in der Vergangenheit der Fall war.
Nicole Freudiger: Die Frage ist auch, wer angesichts der vielen Austritte und des Traditionsabbruchs (dass viel weniger Kinder getauft werden) überhaupt noch in der Kirche bleibt. Es ist gut möglich, dass dies vor allem Konservative und Traditionalistinnen sind. Wie sich die römisch-katholische Kirche in den nächsten 10 bis 20 Jahren entwickelt, wie sehr sie als Weltkirche doch verschiedenen Ausprägungen zulässt, wird dabei wohl entscheidend sein. Papst Franziskus hat die Türe dazu ja aufgestossen mit dem synodalen Weg – ob der nächste Papst damit Ernst macht, könnte richtungsweisend sein.
Frage an Herrn Spengler: Wie gehen Sie persönlich mit der vielen Kritik um? Können Sie die Kritik nachvollziehen oder ist das auch manchmal zermürbend? danke
Simon Spengler: Es tut mir weh zu sehen, wie weit sich meine Kirche selbst in den Schlamassel hinein manövriert hat. Es ist enorm wichtig, dass der ganze Schmutz ans Tageslicht kommt, damit den Opfern, den Betroffenen, Gerechtigkeit widerfährt. Nur auf diesem Weg kann meine Kirche gesunden. Natürlich ist es zermürbend, wenn immer wieder neue schlimme Geschichten auftauchen, wie gerade diese Woche in Uri. Aber wir müssen zu unserer Verantwortung stehen. Nur so haben wir auch ein Recht, über all das Gute zu reden, was eben auch im Rahmen der Kirche geleistet wird.
Ich bin aus persönlichen Gründen ausgetreten. Was bedeutet das jetzt für mich ganz genau?
Simon Spengler: Was das für Sie selbst persönlich bedeutet, können nur Sie selbst beantworten. Aber wenn Sie künftig eine kirchliche «Dienstleistung» in Anspruch nehmen möchten wie Hochzeit, Beerdigung oder andere, sind Ihre Rechte natürlich beschränkt. Aber viele Seelsorgerinnen und Seelsorge bemühen sich, jeweils eine gute individuelle Lösung zu finden, die für beide Seiten stimmt. Und ob Sie dereinst in den Himmel kommen, das liegt eh nicht allein in ihrer Hand und schon gar nicht in der Hand der Kirche. Ich glaube jedenfalls fest daran. Gott ist grösser als alle Kirchen zusammen.
Die katholische Kirche erhält neben den Kirchensteuern weitere öffentliche Gelder, obwohl sie die Frauen aus den Ämtern ausschliesst. Das ist gem. Bundesverfassung (8.3) rechtswidrig. Warum werden die Gelder dennoch gesprochen? Kein Turnverein bekäme bei einer solchen Diskriminierung öffentliche Gelder, kein anderer Arbeitgeber darf Frauen prinzipiell ausschliessen.
Nicole Freudiger: Tatsächlich ist die öffentlich-rechtliche Anerkennung an die Gleichberechtigung geknüpft. Bei anderen Religionsgemeinschaften wie den muslimischen wird die fehlende Gleichberechtigung ins Feld geführt. Würde die römisch-katholische Kirche sich heute um Anerkennung bemühen, könnte es sein, dass deswegen Schwierigkeiten haben würde, sie zu erhalten. Es handelt sich hier um einen Konflikt von Gleichberechtigung und Religionsfreiheit – also dem Recht einer Religionsgemeinschaft, sich so zu organisieren, wie sie möchte. Und was alles noch komplizierter macht: In der Schweiz gilt das duale System und die landeskirchlichen Strukturen, die das Geld erhalten, sind demokratisch und gleichberechtigt aufgebaut.
Wie kann die Kirche Menschen unterstützen, die spirituelle Orientierung suchen, aber keine Dogmen akzeptieren?
Miriam Rose: Im kirchlichen Raum werden Exerzitien, Einkehrtage, Stille-Meditation oder auch spirituelle Begleitung angeboten. Dazu sind alle Interessierten willkommen. Viele Klöster heissen Menschen aller Orientierungen für stille Tage willkommen. Dabei geht es stets um den persönlichen Weg mit Gott oder dem Göttlichen, oder noch behutsamer formuliert: Es geht um das je eigene Fragen, Erfahren und Suchen. Es geht (im Normalfall) nicht um kirchliche Lehre oder theologische Debatten. Wenn man sich mit den Dogmen beschäftigt, könnte man auch bei manchen Dogmen entdecken, wie diese sich auf interessante Debatte und Fragen beziehen. Dogmen wurden und werden oft harsch vorgetragen, auch oft abgrenzend. Aber geschichtlich verstanden sind sie eigentlich auch spannend und interessant. Ökumenische oder unterreligiöse Gespräche machen das oft erlebbar.
Hallo. Viele bezeichnen sich als spirituell, aber nicht religiös. Ist das ein Versagen der Kirchen, Glauben zeitgemäss zu vermitteln?
Anastas Odermatt: Danke für die Frage, da haben sie richtig beobachtet. Gemäss der internationalen ISSP Umfrage 2018 bezeichnen sich rund 16 % «sowohl als religiös als auch spirituell» und 23 % als «spirituell, aber nicht religiös», ebenso aber auch 34 % als «religiös und nicht spirituell» und 28 % als «weder religiös noch spirituell». Mit «religiös» verbinden viele Menschen eine religiöse Institution und mit «spirituell» eher nicht. Mit zunehmender Distanzierung zur Institution Kirche bezeichnen sich einige dann eher als «spirituell». Ich würde hier weniger auf ein «Versagen der Glaubensvermittlung» tippen, sondern eher auf eine Folge der Distanzierung zur Institution Kirche, dies dann aus ganz unterschiedlichen Gründen, die nicht nur mit der Kirche zu tun haben.
Was bedeutet «Glaube» überhaupt im 21. Jahrhundert – muss man dafür noch regelmässig in die Kirche gehen?
Anastas Odermatt: Das ist eine sehr spannende Frage. Ich mache jeweils beliebt, zwischen «Zugehörigkeit», «Überzeugungen», «Praktiken» und «Erfahrungen». Individuelle religiöse Überzeugungen sind sehr wohl ohne «Zugehörigkeit» und «Praktiken» möglich und werden auch gelebt. Daher nein, dafür muss man nicht regelmässig in die Kirche gehen. So glauben beispielsweise auch 9 % aller Menschen in der Schweiz ohne Religionszugehörigkeit und entsprechender Praktiken an einen «einzigen Gott» und 30 % an eine «höhere Macht». Auf lange Sicht ist aber die Aufrechterhaltung der eigenen religiösen Überzeugungen ohne Gruppenanbindung (Zugehörigkeit), Praxis und Erfahrung sehr schwierig, da sich dies gegenseitig stützt. Tendenziell werden die religiösen Überzeugungen im 21. Jahrhundert aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen vielfältiger. Dies ist für viele Zeichen von Freiheit, für andere wirkt dies aber auch bedrohend.
Ich beobachte, dass viele junge Menschen sich von der Kirche nicht angesprochen fühlen. Wie kann sie Jugendliche zurückgewinnen. Was denken Sie über eine stärke Social Media Präsenz?
Simon Spengler: Junge Menschen haben heute die gleichen Lebensfragen wie alle Generationen vor ihnen: Wie kann ich mein Leben sinnvoll gestalten? Wie gelingt Beziehung? Warum gibt es so viel Leid auf der Welt? Nur finden immer weniger junge Menschen in den Kirchen Antworten auf ihre Fragen. Weil die kirchliche Sprache nicht verstanden wird, weil die Beziehung zu Kirche und Religion schon in der Familie kaum eine Rolle gespielt hat, weil sie vielleicht auch schlechte Erfahrungen gemacht haben oder zumindest immer wieder von den schlechten Seiten lesen und hören. Die kirchlichen Jugendverbände wie JuBla, Pfadi oder Cevi sind aber sehr lebendig und da fühlen sich viele Jugendlichen aufgehoben. Social Media sind natürlich für junge Menschen sehr wichtig, also müssen sich auch die Kirchen auf diesen Kanälen in jugendgerechter Art und Weise präsent sein. Aber das allein genügt wahrscheinlich noch nicht.
Guten Tag liebe Religionsexperten Nach all den Vorfällen und hässlichen Geschichten verstehe ich nicht, wie unser Staat noch mit solchen Institutionen zusammenarbeiten kann und wie deren gigantische Machtsymbole, die Kirchen, noch geduldet werden. Wäre es in der Schweiz möglich, die Kirchen aus den Dörfern und Städten zu verbannen? Lieber Gruss aus dem Oberland
Nicole Freudiger: Eine Frage, die schwierig zu beantworten ist. Die Kirchen haben unsere Geschichte und Kultur so lange geprägt, dass man sie wohl nicht allzu rasch «loswird». Das gilt für die Kirchengebäude, die ja oft auch kunsthandwerkliche Schätze enthalten. Und auch für die Institutionen. Die Diskussionen in den verschiedenen kantonalen Parlamenten, die ja zusätzlich zu den Kirchensteuern staatliche Gelder sprechen, zeigen, dass diese Unterstützung zwar öfter infrage gestellt wird als früher. Dass die Gelder dann aber meist doch mit wenig Widerstand gesprochen werden. In unserem demokratischen System liegt es an der Stimmbevölkerung und den Parlamenten zu entscheiden, ob die Kirchen noch unterstützt werden sollen. Das scheint im Moment, auch wegen des sozialen Engagements der Kirchen, der Fall zu sein. Aber: Sie sind mit ihrem Unverständnis nicht allein. Ich treffe immer wieder Menschen, die die Kirchen grundsätzlich infrage stellen. Und meine persönliche Erfahrung ist, dass dies seit dem Missbrauchsskandal zugenommen hat.
Wie kann man heute noch an einen allmächtigen Gott glauben, wenn so viel Leid auf der Welt passiert?
Miriam Rose: Es passiert soviel Schreckliches. Manches geht nicht von Menschen aus (Erdbeben, Krebskrankheiten, Fehlgeburten, etc.), sehr vieles tun Menschen einander und dem Planeten Erde an. Für mich gehört zum Glauben dazu, das möglichst mitfühlend wahrzunehmen und wo ich kann, dagegen zu protestieren und im Gottesdienst / im Gebet zu klagen. Die Theologen und Theologinnen haben immer schon viel über diese Frage nachgedacht. In den letzten Jahrzehnten betonen sie: Gott ist vor allem mitleidend, mitfühlend; Gott ist auf der Seite der Opfer. Gerade auch dafür steht der «Karfreitag». Was ist dann aber mit der Allmacht? Ein Weg im Nachdenken ist zu sagen: Gott selbst hat bei der Schöpfung der Welt auf seine Allmacht verzichtet; er hat den Geschöpfen und insbesondere den Menschen Raum für freies Handeln gegeben. Gott ist als Liebe und als Geist wirksam, aber nicht als eingreifende Allmacht. Es ist und bleibt eine schwierige Frage. Bestimmt haben Sie selbst Gedanken dazu.
Kann ich nicht mehr heiraten oder meine Kinder taufen lassen, wenn ich aus der Kirche austrete?
Simon Spengler: Das ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, bei der Hochzeit sollte aber eines der beiden Mitglied der Kirche sein. Aber Taufe bedeutet ja Aufnahme in die kirchliche Gemeinschaft. Macht das Sinn, ein Kind in die Kirche aufnehmen zu lassen, wenn man selbst sich bewusst von der Kirche getrennt hat? Das muss jeder und jede zunächst mal selbst entscheiden und dann mit dem Pfarrer, der Pfarrerin oder Seelsorgerin vor Ort besprechen. Eine allgemein gültige Antwort kann ich auf Ihre Frage nicht geben.
Kann man gläubig sein, ohne an alle Dogmen der Kirche zu glauben – z.B. an die Jungfrauengeburt oder die Auferstehung?
Simon Spengler: «Glauben heisst für wahr halten», hiess es früher. Und dann kam im Katechismus eine Aufzählung, was man alles für wahr halten müsste. Ich persönlich halte von diesem Glaubensverständnis nicht viel. Denn erstens gehört zum Glauben immer auch der Zweifel, und Glauben darf und soll sich entwickeln und verändern dürfen. Auch die «Dogmen» der Kirche haben sich entwickelt und ihr Verständnis kann sich ändern. Auch Dogmen sind nur menschliche Formulierungsversuche, den Glauben in Worte zu fassen. Jede Generation und jeder Mensch muss letztlich für sich selbst die Antwort finden. Dogmen können vielleicht helfen, manchmal auch hindern. Aber allein Dogmen nachzubeten ist für mich noch kein lebendiger Glaube.
Ich sehe Gott, Jesus und der Heilige Geist als eine Einheit. Aber das ist in der Theologie recht umstritten. Was ist eure Meinung dazu?
Miriam Rose: Für den christlichen Glauben ist mir wichtig: Gott hat sich gezeigt, aber Gott ist und bleibt auch Geheimnis. Daher ist jedes theologische Nachdenken ernst und wichtig, aber keines «hat» abschliessend die Wahrheit. Wenn nach der kirchlichen Lehre gefragt ist: Auch da wird Gottvater, Jesus Christus und der Heilige Geist als Einheit verstanden. Aber als differenzierte Einheit. Die Formel dafür lautet: Gott ist ein Wesen in drei Personen. Diese Einheit kann ausserdem als Liebe gedacht werden: also Vater, Christus und Hl.Geist sind in Liebe einander verbunden, Sie sind in ihrer Liebe eins. Wenn man das so versteht, dann wäre zu beten: hineingenommen werden in die Liebe Gottes. Das ist für mich ein stärkender Gedanke.
Können Sie Ihre Einschätzung abgeben, wie die Kirche zum assistierten Suizid stehen sollte oder steht? Danke vielmals
Simon Spengler: Die Zürcher katholische Kirche hat dazu gerade vor einer Woche eine neue Handreichung veröffentlicht. Früher hiess es, ein katholischer Seelsorger dürfe beim assistierten Suizid nicht anwesend sein, weil das eine Sünde gegen das Leben sei, das von Gott geschenkt wurde. Diese Einstellung wird den Menschen aber kaum gerecht, die diesen Weg wählen. Es ist viel mehr Aufgabe der Kirche, auch diese Menschen in ihren Schmerzen, Fragen, Zweifeln und vielleicht auch ambivalenten Intentionen zu begleiten und nicht zur verurteilen. Begleiten bis zum Schluss, wie auch immer der aussieht.
Wie kann man davon ausgehen dass die institutionellen Kirchen glaubhafter werden ohne dass eine fundamentale Änderung zur vorgelebten Visualität und zum «Grundgedanken» der Glaubensbotschaft vorgenommen wird? Wer kann mit einem «Zauberstab» Jahrhunderte zurückdrehen……? Es gibt sicher vereinzelte Versuche welche aber in der Flut von neuen «Irrfahrten» versinken…?
Miriam Rose: Vielen Dank für Ihre Frage. Zu Ihrer Frage gibt es innerhalb der katholischen Kirche, aber auch in den anderen christlichen Kirchen sehr viel Streit. Ich denke, dass alle, die Reformen (welcher Art auch immer) wollen, damit die «Grundgedanken» wieder ins Zentrum stellen wollen. Wir streiten dabei darüber, was die Grundgedanken sind. Ist es die bedingungslose Liebe Gottes zu allen Menschen? Ist es die Forderung nach radikaler Nachfolge? Was ist es? In diesem Streit hilft nur geduldiger Dialog. Das ist anstrengend und oft frustrierend. Aber mit dem Synodalen Prozess / Weg in der Katholischen Kirche wird genau dies versucht: den Dialog über die Grundgedanken zu führen. Vielleicht wird sich herausstellen, dass man je nach Kontext andere Aspekte der «Grundgedanken» betonen muss. Ich versuche, mich selbst an den Grundgedanken zu orientieren – und weniger die anderen zu kritisieren, dass sie vielleicht «Grundgedanken» verraten.
Sollte sich die Kirche politisch einmischen – etwa bei Klima, Migration oder sozialen Fragen? Oder wäre Neutralität besser?
Anastas Odermatt: In einer liberalen demokratischen Gesellschaft, wie es die Schweiz eine ist, sollten sich möglichst alle Akteurinnen und Akteure im öffentlichen Diskurs einmischen und zu tragfähigen Lösungen beitragen. Und ja, dazu gehören auch die Religionsgemeinschaften und Kirchen, ebenso wie Wirtschaftsverbände, Kulturinstitutionen und zivilgesellschaftliche Organisationen. Religionsgemeinschaften haben Botschaften, diese sollen sie vertreten dürfen, auch im öffentlich-politischen Diskurs. Die Verantwortlichen müssen sich aber bewusst sein, dass sie dadurch anderen Meinungen entgegentreten und Kritik auslösen. In der Schweiz gehört es dazu, bei Abstimmungen auch mal zu verlieren und mit Kritik umgehen zu können. Aber das macht es doch aus. Wenn eine starke liberale Öffentlichkeit gewünscht ist, sollten Kirchen und Religionen auf Neutralität tendenziell verzichten.
Mich würde interessieren wie die Kirche auf andere Religionen blickt? ist das Verständnis oder sind das einfach «ungläubige», danke.
Miriam Rose: Vielen Dank für Ihre wichtige Frage. Im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) hat die Kirche die Auffassung vertreten, dass sich in anderen Religionen auch Elemente von Wahrheit und Heil finden lassen. Die Menschen anderer Religionen werden also keinesfalls einfach als Ungläubige verstanden. Es hat sich in der universitären Theologie eine ganze Richtung entwickelt, die sich mit dieser Frage auseinandersetzt. Das heisst Theologie der Religionen. Jedoch betont man mehr und mehr die Notwendigkeit, nicht über andere Religionen zu sprechen, sondern vor allem mit ihnen. Dabei zeigt sich konkret, was Christinnen und Christen und Menschen anderer Religionen verbindet, und was sie aber auch trennt. Ganz allgemein aber gilt im Verständnis katholischer Theologie: Gottes Liebe reicht weiter als die Kirche und seine Gnade ist für alle Menschen da.
Nicole Freudiger: Die Zusammenarbeit mit anderen Religionen ist auch im Interesse der christlichen Kirchen. Denn: Die Religion verliert in der Gesamtgesellschaft an Bedeutung, sie wird immer weniger geduldet und ist auch immer weniger sichtbar. Deshalb lohnt es sich für die Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen Religionen, zusammenzuspannen und für Verständnis zu weibeln in der säkularen Gesellschaft.
Warum hört man solche Skandale immer von der Kirche? Ich höre nichts oder nicht viel aus anderen Religionen. Was dürfte da ausschlaggebend sein? oder habe ich ein falsches Bild von anderen Religionen? ICh bin Atheist.
Nicole Freudiger: Die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der römisch-katholischen Kirche einerseits und der evangelischen Kirche andererseits (hier beziehe ich mich auf die Studie aus Deutschland) hat gezeigt: Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt gab es in beiden Kirchen, obwohl die Strukturen andere sind. Die Aufarbeitung zeigt auch: Die kirchlichen Strukturen und die Überhöhung von kirchlichen Autoritäten haben diesen Missbrauch begünstigt, er betraf aber auch andere gesellschaftliche Bereiche. Will heissen: Es ist sehr wahrscheinlich, dass es Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt auch in anderen Religionen gab und gibt. So gibt es etwa auch Meldungen von Übergriffen in buddhistischen Klöstern. Dass die christlichen Kirchen im Zentrum stehen, hat wohl auch damit zu tun, dass die Schweiz bwz. Europa in der Zeit, in der die meisten Taten passiert sind, noch stark christlich geprägt. Der Islam, der Buddhismus, der Hinduismus – sie alle kamen später, meist mit der Migration, nach Europa. Es ist also nachvollziehbar, dass die Aufarbeitung in der Schweiz vor allem die christlichen Kirchen betrifft.
Anastas Odermatt: Machtmissbrauch und Skandale gibt es sehr wohl auch in anderen Religionen. Religionen und religiöse Institutionen haben das Potenzial, sehr viel Macht einzelnen Menschen zu übertragen. Dort wo viel Macht auf allzu menschliches trifft, ist Machtmissbrauch häufig nicht weit entfernt. Im Gegensatz zu anderen Institutionen, in denen Machtmissbrauch auch stattfindet, erheben Religionen aber gleichzeitig noch einen moralischen Anspruch hinsichtlich des «guten Lebens», darum ist der Machtmissbrauch dann umso bestürzender. Die Tatsache, dass wir in unseren Breitengraden vor allem von Machtmissbrauch in christlichen Kirchen hören ist, dass diese bei uns Mehrheiten ausmachen und es damit entsprechend Betroffen gibt.
Was ich mich bei allen Religionen frage: Ein Gläubiger kann ja unmöglich an die Evolutionstheorie glauben, wie ist Religion somit mit Wissenschaft vereinbar? Wie trennen Gläubige und was hat das für ein Bild auf andere, wenn jemand etwas aus religiösen Gründen leugnet. Ich glaube selbst an viele WissenschaftlicheN Errungenschaften nicht direkt, aber verstehe es, dass man da differenziert schauen muss.
Miriam Rose: Sie sprechen ein sehr wichtiges Thema an. Gerne würde ich zurückfragen, warum ein Glaubender die Evolutionstheorien nicht für wahr halten kann? Wenn es um die biblischen Texte zur Schöpfung geht: Die gegenwärtige theologische Forschung dazu denkt, dass es in diesen Texten darum geht, dass Gott die Schöpfung gut geschaffen hat und dass sie eine gute Struktur hat. Diese gute Struktur können wir gegenwärtig durchaus als Prozess denken, auch als evolutionären Prozess. Wenn es um das Verhältnis von Naturwissenschaft und religiösem Glauben geht: Beides sind zwei völlig verschiedene, aber miteinander kompatible Perspektiven auf unsere Welt. Der Glauben spricht vom Sinn der Welt, die Naturwissenschaft spricht davon, wie genau die Welt funktioniert.
Frage an Freudiger: Mich würde interessieren, wie SRF als Medium mit Religionsthemen umgeht und sie angeht. Da muss man ja wirklich sehr gut aufpassen, dass man niemanden verletzt. Nicht nur jetzt auf den Christentum bezogen: Wie distanziert man sich als Expertin oder Experte, wenn man diese Religion eigentlich nicht lebt oder nicht alles nachvollziehen kann? Merci für Ihre Einblicke, hoffe die Frage ist nicht zu persönlich.
Nicole Freudiger: Vielen Dank für die Frage, sie ist ganz und gar nicht zu persönlich. Mir scheint als Religionsjournalistin wichtig, Respekt zu haben vor Menschen, die gläubig sind. Das heisst aber nicht, dass ich persönlich mit allem einverstanden sein muss, das dieser Glaube beinhaltet. Zudem ist es unsere Rolle, kritisch zu beobachten und einzuordnen. Das ist umso wichtiger, weil das Wissen über Religionen gesamtgesellschaftlich abnimmt.
warum gibt es immer noch keine weiblichen Priester oder Bischöfinnen?
Simon Spengler: Die Kirchenleitung begründet das vor allem mit der Tradition: Seit Anfang an war das immer so. Allerdings gibt es diese Frage nicht nur in der katholischen Kirche. Auch in den meisten jüdischen Gemeinden können Frauen nicht Rabbinerin werden oder in den meisten muslimischen keine Imaminnen. Für die katholische Kirche wird oft noch angebracht, man wolle das Verhältnis zu den orthodoxen Kirchen nicht belasten. Und ausserdem würde die Frauenweihe wahrscheinlich eine Spaltung in der katholischen Weltkirche bedeuten, wovor die meisten Bischöfe und der Papst Angst haben. Andererseits ist diese Ungleichbehandlung von Mann und Frau in unserer westeuropäischen Welt gar nicht mehr vermittelbar. Findet die Kirche nicht bald eine Lösung, verliert sie bei uns jede Glaubwürdigkeit. Ausser vielleicht bei ein paar wenigen katholischen Fundamentalisten, die es halt auch gibt.
Müsste die Kirche sich eventuell mutiger zum Welt geschehen äussern und geopolitische Ereignisse und Politiker rügen oder mahnen? Mir scheint als ob die Glaubwürdigkeit der Kirche nur bedingt vorhanden ist, wenn sie sich nicht getraut für das «richtige» einzusetzen.
Nicole Freudiger: Das ist ein heisses Eisen. Denn was ist «das Richtige». Die Abstimmung zur Konzernverantwortungsinitiative hat gezeigt, dass die Kirchen einen ziemlichen Spagat machen müssen, wenn sie sich zu konkreten politischen Fragen äussern. Denn gerade die Mitglieder der Landeskirchen decken das gesamte gesellschaftliche Spektrum ab, von links bis rechts. Allerdings haben Sie recht: Die Mitglieder der Kirchen wünschen sich eine klare Haltung, das zeigt die jüngst erschienene Sotomo-Umfrage, die die römisch-katholische Kirche des Kantons Zürich in Auftrag gegeben hat. Nur: Die Mitglieder sind mit den bisherigen gesellschaftspolitischen Äusserungen nicht zufrieden. Sie sehe also: Es ist für die Kirchen nicht ganz einfach, «das Richtige» zu finden, für das sie sich einsetzen wollen.
Es finden sich heute sehr viele Menschen in einer Haltung der Oberflächlichkeit, was Fragen zu Sinnhaftigkeit des Lebens, Spiritualität, Religion angeht. Teils verständlich was die Schlagzeilen der Kirchen heute angeht. Ein Unterschied zu relevanten Glaubensinhalten (biblische Botschaft, Sinn von Ostern, Weihnachten, usw.) wird kaum gemacht, dass diese Beachtung fänden. Verbreitet treffe ich eine Art Haltung der Oberflächlichkeit und Gleichgültigkeit im Gespräch mit Menschen an. Wie könnte wieder Lust auf zentrale wichtige christliche Themen geweckt werden? Das Bedürfnis nach Spiritualität ist gemäss Medien vorhanden.
Anastas Odermatt: Vielen Dank für die Frage. Ja, die Mehrheit der Menschen in der Schweiz lassen sich als distanziert zu Religion beschreiben. Ich würde dies zunächst nicht mit Oberflächlichkeit verwechseln wollen, viele Menschen sind, wenn es um Sinn- und Lebensfragen geht, nicht per se oberflächlich. Vielleicht sind sie aber einerseits in der Situation selbst überfordert. Da muss auch nichts «geweckt» werden, sondern es ist mehr eine Frage der Kommunikation und wer, wie anspricht. Das ist eine schwierige Aufgabe in der heutigen Gesellschaft. Das Bedürfnis nach Spiritualität ist bei vielen tatsächlich zwar vorhanden, jedoch nimmt auch dieses langfristig betrachtet eher ab als zu. Für die Verantwortlichen von Kirchen und Religionsgemeinschaften geht es also darum, stets neue situationsgerechte Sprache zu finden, aber auch darum, ihre Rolle in der säkularen Gesellschaft immer wieder (neu) zu finden. Das ist anspruchsvoll.
Vielen Dank für den sehr spannenden Chat. Es gibt ja zum Teil Kritik aus verschiedenen Seiten, dass durch die Reformation nichts mehr vom ursprünglichen Glauben da ist. Alles, was nicht passt, wird einfach durch Menschen geändert. Ist das nicht auch ein Problem, das man besprechen müsste oder sehen Sie das anders. Besten Dank.
Miriam Rose: Vielen Dank für Ihre sehr wichtige Frage. Im Glauben geht es um die ewige Wahrheit. Das Problem ist: Wir haben diese Wahrheit immer nur in Form von menschlicher Sprache. Daher besteht die Aufgabe jeder neuen Generation darin zu unterscheiden: Was an dem Überlieferten und an den Dogmen zielt auf die ewige Wahrheit und was ist menschliche, manchmal veraltete Sprache. Dazu braucht es unter anderem auch universitäre Theologie: das mit viel historischer Fachkenntnis zu diskutieren. Wenn Sprache veraltet (was Sprache immer tut), dann muss man neue Sprachformen finden, gerade um die ewige Wahrheit zu berühren: so die kirchliche Überzeugung. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) hat für viele Themen eine neue Sprache gefunden in der katholischen Kirche. Auch die Päpste versuchen das jeweils auf ihre Weise. Es geht also nicht um beliebige Veränderungen und Anpassungen, sondern um den Versuch, das Bleibende und Wahre jeweils neu auszudrücken. Insofern sind Glauben und Denken immer auch herausfordernd.
Hallo, eine Frage die mich umtreibt: Warum darf und wird so viel gegen die Kirche geschossen und das toleriert, aber kleinste Kritik gegen Andersgläubige wird sofort diskriminierend eingestuft. Mir kommt es vor, als wird manchmal mit anderen Ellen gemässen. Beobachten Sie das auch? Was ist Ihre Meinung dazu. Merci für die Einordnung und entschuldigen Sie die aufdringliche Frage.
Anastas Odermatt: Vielen Dank für die spannende und anspruchsvolle Frage. Zunächst warum Kirchen gegenwärtig viel Kritik einstecken müssen: Tatsache ist, dass die christlichen Kirchen bei uns historisch verwoben sind mit Gesellschaft und Politik und bis heute machtvolle Netzwerke und Institutionen sind. Damit sind sie aber auch Gegenstand von Kritik. Das müssen sie auszuhalten. Wichtiger scheint mir aber die persönliche Erfahrung von Diskriminierung: In einer 2019 durchgeführten Studie haben wir erforscht, wie stark sich Menschen mit unterschiedlicher Religionszugehörigkeit aufgrund ihrer jeweiligen Zugehörigkeit diskriminiert fühlen: Rund 17 % der Katholik:innen und 9 % der Reformierten haben Diskriminierungserfahrungen aufgrund ihrer Zugehörigkeit angegeben. Das ist nicht nichts. Markant ist der Unterschied dann aber zu Personen mit muslimischem Hintergrund – 56 % Diskriminierungserfahrung – und Personen aus dem evangelisch-freikirchlichen Millieu, dort berichteten 69 % der Personen von Diskriminierungserfahrungen. Was uns diese Zahlen vor allem zeigen ist, dass Diskriminierung stark mit gesellschaftlichen Mehrheits- und Minderheitsverhältnissen zu tun hat. In einer vermehrt säkularisierten Gesellschaft werden sich daher zukünftig religiöse Menschen im Allgemeinen vermutlich tendenziell eher diskriminiert fühlen, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Dies gilt es sicherlich im Auge zu behalten.
Ich erinnere mich noch an meine Schulzeit, da haben wir im Ethikunterricht die verschiedenen Religionen behandelt. Ich weiss nicht, wie die aktuelle Situation aussieht, ist die Religion in den Schulen weiterhin ein grosses Thema? Wie muss der Unterricht Ihrer Meinung nach aussehen, damit niemand diskriminiert wird. Meiner Meinung nach, muss man ja schliesslich jede Religion gleichwertig behandeln.
Simon Spengler: Konkret ist der Religionsunterricht von Kanton zu Kanton anders geregelt, weil Bildung und Schule in kantonaler Hoheit liegen. Aber an immer mehr Orten wird heute in der Schule kein klassischer Religionsunterricht mehr erteilt, wie ihn noch unsere Eltern kannten, sondern es wird Wissen über die Religionen (Plural!) vermittelt. Die klassische Vorbereitung auf Erstkommunion, Firmung, Konfirmation geschieht meist ausserhalb der Schule und ist natürlich freiwillig. Mir scheint es aber auch weiterhin wichtig zu sein, dass junge Menschen etwas über unsere abendländische Kultur lernen, und dazu gehört auch die Religion. Die europäische Geschichte ist ohne die Geschichte der Kirchen gar nicht zu verstehen und selbstverständlich gehören auch Judentum und Islam zur europäischen Geschichte, ebenso die europäische Literatur und Kunst. Überall gibt es Bezüge zur Religion – in unseren Breitengraden halt sehr oft zur christlichen Religion und zur Bibel.
Spannend, dass es so viele unterschiedlichen Strömungen gibt im Christentum, im Islam zum Beispiel nicht. Wie muss man das verstehen als Laie? Danke
Nicole Freudiger: In unserer Rubrik «Stichwort Religion» erklärte Kollegin Judith Wipfler gerade letzten Sonntag, weshalb es so viele Konfessionen gibt. «Die Kirchengeschichte ist eine Geschichte der Spaltung», sagt sie da. Allerdings: Auch im Islam gibt es verschiedene Strömungen – Schiiten und Sunniten, etwa. Vier verschiedene Rechtsschulen und unzählige verschiedene kulturelle Ausprägungen.
Anastas Odermatt: In den meisten Religionen gibt es ganz unterschiedliche Strömungen und Richtungen. Und ja, auch im «Islam», aber auch im «Buddhismus» und erst recht in «Hinduismus» gibt es ganz viele Strömungen und Richtungen. Ihre Frage weist auf eine grosse Herausforderung hin: Wann ist eine «Religion» eine «Religion» und wird als solche dann auch von wem so wahrgenommen. Was damit vor allem gemacht wird ist, «fremdes» zu kategorisieren, damit es für den Beobachter einfacher wird. Das ist gut und recht und hilft meistens auch. Man sollte aber nicht vergessen, dass dies alles Sammelbegriffe sind und bleiben. Wertvoll ist es da als Laie sich im direkten Gespräch mit Personen aus anderen Religionen auszutauschen und einen Einblick aus dieser persönlichen Perspektive zu erhalten.
Ich persönlich finde die Kirche als Institution heute wichtiger denn je. Dass aber viele den «Draht» verlieren, liegt meiner Meinung auch an der immer schnelllebigeren Zeit. Zeit zum Innehalten nehmen sich viele nicht oder nicht mehr. Wie sehen Sie das?
Simon Spengler: Ich kann Ihnen da nur zustimmen. Nicht nur die Institution Kirche ist nach wie vor wichtig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern auch andere Institutionen wie Parteien und Verbände. Wenn sich die Gesellschaft immer weiter individualisiert und zur Vereinzelung führt, dürfte das viele Menschen überfordern. Aber jede Institution muss sich anpassen, die Bedürfnisse der Menschen von heute wahrnehmen und dafür sinnstiftend sein. Sonst verliert sie ihre Daseinsberechtigung. Kirche darf nicht einfach ein religiöser Ballenberg sein. Dann werden auch weiterhin Menschen hier einen Ort finden, in dem sie sich aufgehoben und gehört fühlen.
Nicole Freudiger: Damit die Menschen den Draht nicht verlieren, müssen sich die Kirchen aber anpassen. Das spirituelle Angebot ist heute so breit und die Menschen dermassen gewöhnt, dass sie ihre individuellen Bedürfnisse stillen können, dass die Kirchen darauf reagieren müssen. Kirche von unten ist hier wohl das Stichwort.
Hat die Kirche noch eine Zukunft oder sehen Sie es auch so, dass es immer mehr Atheisten und Agnostiker geben wird.
Anastas Odermatt: Ja, die gegenwärtige Säkularisierung als gesellschaftlicher Wandel, bei der Religion an Bedeutung verliert, wird auch zukünftig zu mehr Personen ohne religiöse Anbindung führen. Das müssen aber einerseits nicht per se «Atheisten» (Ablehnung einer göttlichen Existenz) oder «Agnostiker» (bewusstes offenlassen der Antwort auf die Frage nach der Existenz Gottes) sein, sondern können für sich ganz unterschiedliche Welt- und Lebensvorstellungen haben – sehr wohl auch mit einem transzendenten Bezug . Wie in jeder Entwicklung wird es aber den Zeitpunkt geben, wo es dann nicht mehr weniger z. Bsp. Katholikinnen und Katholiken geben wird. Daher, die Kirche hat eine Zukunft – nur wird sie sich entsprechend der Grösse ihrer Mitgliederbasis und ihrer veränderten gesellschaftlichen Positionierung in ihrer institutionellen Ausprägung verändern.