Nach einem Schicksalsschlag sucht eine junge Frau Hilfe. Sie findet Trost und Halt im christlichen Glauben und eine Heimat in der reformierten Kirche. Ein Pfarrer benutzt ihren Glauben, um sie zu manipulieren und sexuell auszubeuten. Der Fall ereignete sich um die Jahrtausendwende.
«Dort, wo das Leben seine tiefsten Narben hinterlassen hat, setzte er seine «Angelhaken», um Macht über mich auszuüben», sagt Frau N.: «Er drang über die Spiritualität in die Tiefe meiner Seele ein, lange bevor er in meinen Körper eindrang.»
Mit professioneller Unterstützung befreit sie sich schliesslich aus diesem Netz. Sie gibt die Arbeitsstelle auf und wechselt den Wohnort, um jeglichen Kontakt zu unterbinden. Der Täter ist unterdessen nicht mehr im Pfarramt.
Kirchenbild erschwert Abgrenzung
Das Umfeld der reformierten Kirche kann Übergriffe begünstigen. Davon ist Theologin und Pfarrerin Sabine Scheuter überzeugt: «Es ist ja gerade gewünscht, dass die Pfarrfamilie im Dorf nahe bei den Menschen wohnt. Und das theologische Bild von der Gemeinde als Familie erschwert die Abgrenzung.»
Seit 20 Jahren arbeitet sie als Vertrauensperson in der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich. «Jedes System, das mit Nähe zu tun hat und mit Minderjährigen arbeitet, birgt Risiken», sagt Sabine Scheuter. Nähe ist im Spiel bei Gottesdiensten und Veranstaltungen in den Gemeinden, bei Berührungen in Ritualen, im Unterricht mit Kindern oder im Lager mit Konfirmandinnen und Konfirmanden.
Mehr Übergriffe als bisher angenommen?
«Wenn die römisch-katholische Kirche ein Problem hat, heisst das nicht, dass die reformierte Kirche kein Problem hat», so Scheuter. Das Ausmass an sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche ist grösser als bisher angenommen. Das zeigt eine breit angelegte Untersuchung in Deutschland, die vor einem Jahr erschienen ist. Für die reformierten Kirchen der Schweiz liegen keine genauen Zahlen vor.
Die Synode der Evangelisch-Reformierten Kirche Schweiz EKS hat im Jahr 2024 eine breit angelegte Studie zu sexuellem Missbrauch in der Schweizer Gesellschaft wegen der Ausrichtung der Studie abgelehnt. Eine Arbeitsgruppe soll nun entscheiden, wie es mit der Studie weitergeht und wie Meldungen von Betroffenen einheitlich erfasst werden.
Struktur behindert Aufarbeitung
Die Schwierigkeit: In der evangelisch-reformierten Kirche Schweiz sind die verschiedenen Landes- und Kantonalkirchen wie in einem Dachverband organisiert, diese Kantonalkirchen handeln jedoch weitgehend selbständig. Damit noch nicht genug: Die Landes- und Kantonalkirchen wiederum sind vor Ort in Kirchgemeinden organisiert. Die Struktur erschwert die Koordination, zum Beispiel auch bei der Erhebung der Anzahl Fälle von sexuellen Übergriffen.
Die reformierte Kirche der Schweiz befindet sich in einem Kulturwandel, um Menschen besser vor Grenzverletzungen zu schützen. Macht und Nähe spielen dabei eine wichtige Rolle. Nicht nur die reformierte Kirche hat da noch ein Stück Arbeit vor sich.
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