Die Missbrauchsfälle in der römisch-katholischen Kirche haben auch die evangelisch-reformierte Kirche aufgewühlt. Bis jetzt wollte sie ihre Fälle von sexuellem Missbrauch nicht schweizweit aufarbeiten. Diese Haltung hat sich nun geändert. Rita Famos, die Präsidentin der evangelisch-reformierten Kirche der Schweiz, im Gespräch.
SRF: Inwiefern haben die Meldungen zu den sexuellen Missbrauchsfällen in der römisch-katholischen Kirche Ihre Arbeit im letzten Jahr geprägt?
Rita Famos: Sie haben uns sehr betroffen gemacht. Wir haben uns dann überlegt, was wir jetzt machen. Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir die Studie nicht nutzen für ein konfessionelles Schaulaufen. Es gab den Impuls zu sagen: «Wir sind keine Männer-Kirche. Die Stellung der Frau ist bei uns eine ganz andere. Wir haben kein Zölibat.»
Auch in unserer Kirche hat es, wie überall in dieser Gesellschaft, Missbrauchsfälle.
Ich verstehe diesen Impuls. Aber ich finde, wir brauchen eine kritische Loyalität. Kritisch im Sinne von: «Schaut hin, da muss etwas passieren!» Es wäre fast zynisch, auch gegenüber den Opfern, zu sagen, bei uns sei alles besser. Das stimmt überhaupt nicht. Auch in unserer Kirche hat es, wie überall in dieser Gesellschaft, Missbrauchsfälle. Wir haben viel zu lange weggeschaut.
In Deutschland veröffentlicht die evangelische Kirche Anfang 2024 eine Untersuchung. Es ist anzunehmen, dass sie eine hohe Fallzahl von sexualisierter Gewalt aufzeigen wird. Wie sieht die Situation in der Schweiz aus?
Wir haben im Unterschied zu Deutschland kein eigenes Diakoniewerk, das Heime oder Schulen führt. Das sind Orte, die sehr anfällig sind. Aber wir haben dieselben Seelsorge-Beziehungen zwischen charismatischen, starken Persönlichkeiten und vulnerablen Personen. Dort sind wir sehr anfällig und dort ist viel passiert. Wir haben zudem die ganze Jugendarbeit, die auch sehr anfällig ist.
Ich würde sagen, dass es nicht dasselbe Ausmass wie in der römisch-katholischen Kirche ist.
Ich würde aber immer noch sagen, dass es nicht dasselbe Ausmass wie in der römisch-katholischen Kirche ist. Aber wir haben auch unsere Fälle. Wir haben sicher nicht wenige Fälle. Und da müssen wir ganz klar besser hinschauen.
Sie waren bis jetzt immer dagegen, dass ihre Kirche eine schweizweite Studie zu sexualisierter Gewalt durchführt – halten Sie daran fest?
Wir überdenken diese Haltung. Wir überlegen uns, wie wir das machen könnten. Wir haben mit unserem föderalistischen System kein zentrales Archiv wie in den Bistümern. Wir haben in 2000 Kirchgemeinden Archive. Die meisten Fälle, die passiert sind, sind aber gar nicht dort dokumentiert, da sie der Staatsanwaltschaft übergeben wurden. Viele Fälle wurden leider gar nie thematisiert. Das ist die grosse Herausforderung, die wir haben. Wir werden schauen, welches Zahlenmaterial es quantitativ, aber eben auch qualitativ gibt. Dann sehen wir, wo die Fälle vorkommen.
Welchen Handlungsbedarf sehen Sie in der evangelisch-reformierten Kirche?
Mit der Aufarbeitung sollen die Opfer eine Stimme bekommen. Zudem gibt es weiteren Handlungsbedarf: Die meisten Kantonalkirchen haben zwar Meldestellen, diese sind aber nicht gut auffindbar. Diese sollen landesweit leicht zugänglich werden.
85 Prozent unserer Mitglieder sind in einer Kirche, die Schutzkonzepte haben.
Zweitens muss über eine finanzielle Entschädigung nachgedacht werden. Drittens muss die Präventionsarbeit sichergestellt werden. 85 Prozent unserer Mitglieder sind in einer Kirche, die Schutzkonzepte haben. Die anderen 15 Prozent erarbeiten wir noch.
Das Gespräch führte Karoline Arn.