Eine deutsche Missbrauchsstudie zeigte gestern: Auch in der evangelischen Kirche gab es Tausende Taten und Täter. Das Ausmass ähnle dem in der römisch-katholischen Kirche. Die Studie löst auch in der Schweiz Bestürzung und Besorgnis aus.
Die Schweizer Reformierten wollen mit einer unabhängigen Studie herausfinden, was es an sexualisierter Gewalt, Übergriffen und Grenzverletzungen in Räumen der reformierten Kirchen gab und gibt.
Obschon Rita Famos gewappnet war, ist sie nun doch erschrocken von der Studie der evangelischen Schwesterkirche in Deutschland. «Ich weiss jetzt, es gibt systemisch bedingten und geförderten Missbrauch auch in der evangelischen Kirche.» Famos ist Präsidentin der evangelisch-reformierten Kirche Schweiz EKS.
Die alte Abwehrhaltung der Reformierten «Bei uns passiert doch so was nicht», weil sie so demokratisch und Frauen gleichberechtigt seien, sei unhaltbar geworden, betont Rita Famos. «Ich habe das bis vor kurzem auch so gedacht. Und ich muss nun umlernen. Das schulden wir den Betroffenen.» Denn gerade diese Einstellung könnte die Leute davon abhalten, sich zu melden.
In einer Studie herausfinden zu wollen, wie viele Betroffene von sexualisierter Gewalt es gab, ist wohl ein Ding der Unmöglichkeit. Das zeigt die deutsche Studie. Pfarrerin Famos möchte die Betroffenen ins Zentrum stellen, ihnen glauben und das Wort erteilen: «Sie wissen, wo was passieren kann. Und da müssen wir sehr demütig und sehr gut hinhören. Dazu könnte eine Studie dienen.»
Bis anhin habe die Kirche zu wenig zugehört. Und das sei auch ein Grund, warum Strukturen, die potentielle Täter und Taten begünstigten, nicht erkannt worden seien.
«Die evangelisch-reformierten Kirchen der Schweiz haben in den letzten Jahren sehr viel auf Prävention und Ausbildung, Weiterbildung gesetzt. Aber ich glaube, das genaue Hinschauen gibt uns noch bessere Möglichkeiten. Und dann geht es auch darum, anzuerkennen.» Das Leid der Betroffenen endlich anerkennen und Massnahmen ergreifen.
Man soll Betroffenen wirklich auch sagen: ‹Man darf sagen, was nicht gut ist. Meldet euch!›
Es soll bald eine unabhängige Meldestelle für sexualisierte Gewalt und Grenzverletzungen geben. Doch diese zentrale nationale Meldestelle lässt auf sich warten. Grund ist der typisch reformierte Föderalismus. Und der sei auch der Grund für die Verantwortungsdiffusion in evangelischen Kirchen, diagnostiziert die deutsche Studie.
Die Schweizer Kirchenpräsidentin entgegnet: «Ich glaube schon, dass das Partizipative eine Stärke von uns ist, dass wir die Sexualmoral aufgearbeitet haben, dass wir kein Zölibat haben. Aber was mich jetzt auch überrascht: Das feit uns nicht vor diesen Missbräuchen.»
Gefährliche Konfliktunfähigkeit
Auch die Milieukritik aus der deutschen Studie nimmt Rita Famos ernst. Demnach herrsche in evangelischen Milieus eine Art Harmoniezwang, ein Druck, zu vergeben, zu lieben. «Wir sind alle bemüht, dieses Ideal der Liebe hochzuhalten. Das finde ich auch zentral für uns. Aber alles, was diesem Ideal widerspricht, versucht man hinter den Kulissen zu regeln, vielleicht manchmal auch unter den Teppich zu kehren.»
Und diese Konfliktunfähigkeit ist gefährlich. «Konfliktfreudigkeit, Streiten muss man lernen. Man soll Betroffenen wirklich auch sagen: ‹Man darf sagen, was nicht gut ist. Meldet euch!›», wünscht sich Pfarrerin Rita Famos.