1971 war das Jahr des Unabhängigkeitskampfes in Bangladesch. Die Awami-Liga gewann unter Sheikh Muhjibur Rahman die ersten demokratischen Wahlen im damaligen Ost-Pakistan.
Die Partei forderte Gleichstellung der bengalischen Bevölkerung mit den Menschen im Kernland Pakistan. Doch anstelle einer Machtübergabe riss die pakistanische Armee die Macht an sich.
Sheikh Mujibur Rahman erklärte die Unabhängigkeit. Was folgte war ein neun Monate andauernder Freiheitskampf gegen die pakistanische Armee. Tausende von Studenten schlossen sich dem Kampf an: Mahfuz Anam, damals ein Student, erinnert sich: «Wir bewaffneten uns und kämpften an der Seite der bengalischen Soldaten gegen die übermächtige pakistanische Armee.»
Anam war einer von diesen Guerilla-Soldaten, welche am 16. Dezember 1971 Pakistan in die Knie zwang. Sheikh Mujibur Rahman, der fortan «Freund der Bangalen» genannt wurde, führte das Land in die Unabhängigkeit und formulierte vier fundamentale Prinzipien der noch jungen Nation: Nationalismus, Säkularismus, Sozialismus und Demokratie.
Prinzipien, von denen nicht viel übriggeblieben sei, stellt Mahfuz Anam fest. Er führt heute eine der grössten englischsprachigen Zeitungen des Landes, «The Daily Star»: «Der Geist von 1971 ist heute sicherlich verschwunden. Ich glaube, jede noch so sehr von Idealen geprägte Partei vergisst über die Zeit ihre Prinzipien, für die sie einmal stand. Das trifft auch für die Awami-Liga zu.»
Nur drei Jahre nach der Unabhängigkeit wurde Mujibur Rahman in einem Militärcoup ermordet. Es folgten 16 Jahre Militärdiktatur. 1991 gab es einen demokratischen Neustart mit der dem Militär nahestehenden Partei BNP.
Doch das Bangladesch der 1990er Jahre war ein anderes als jenes in den Gründerjahren. Die Welt war eine andere. Der Sozialismus war am Ende: «Den Sozialismus haben wir schon vor langem aufgegeben. Wir versuchten anfangs zum Beispiel, die Textilindustrie zu verstaatlichen. Das hat nicht funktioniert», so Mahfuz Anam.
Wirtschaftswunder dank der vielen Arbeiterinnen
Stattdessen versuchte das Land die wirtschaftliche Kehrtwende und öffnete sich den internationalen Modeherstellern. Ein Entscheid, der dem Land zu einem enormen Wirtschaftswachstum verhalf, aber auch den sozialen Graben zwischen Arm und Reich öffnete.
«Viele Beobachter haben Bangladesch zu Beginn als hoffnungslosen Fall abgetan. Ein Land, das immer von internationaler Hilfe abhängig sein wird. Heute ist Bangladesch ein Vorzeigebeispiel», sagt die Politologieprofessorin Rounaq Jahan. Sie unterrichtet an der Dhaka-Universität.
«In allen sozialen Indikatoren wie Alphabetisierung, Durchschnittseinkommen, Lebenserwartung hat Bangladesch das frühere Mutterland Pakistan mittlerweile überholt und in vielen sogar Indien», sagt Jahan.
Mitverantwortlich für diesen Erfolg seien die Frauen gewesen, die in den zahlreichen Nähfabriken arbeiteten, sagt Frauenrechtsaktivistin Khushi Kabir. «Die Kleidungsindustrie spielte eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Landes. In den Fabriken waren damals meist Frauen tätig. Womöglich, weil sie günstiger waren als ihre männlichen Kollegen oder weniger streikten. Es war – und ist – Ausbeutung und dennoch erlebten die Frauen als Mitverdienerinnen einen sozialen Aufstieg.»
Aber nicht nur durch die Kleiderherstellung. Schon Mitte der 1970er-Jahren begann der spätere Friedensnobelpreisträger Mohammed Yunus Mikrokredite zu vergeben. Seine «Grameen Bank» hat massgeblich zur Armutsreduktion beigetragen, sagt Shireen Huq von der Frauenrechtsorganisation Naripokkho. «Auch da waren es mehrheitlich Frauen, die Mikrokredite beantragten und erhielten. Sie konnten mit dem geliehenen Geld ein kleines Geschäft eröffnen und mit dem Einkommen ihre Schulden zurückbezahlen».
Ein weiterer Faktor, der zum Wirtschaftswachstum von Bangladesch beigetragen hat, war der Export von Arbeitskräften. «Die Mehrheit der rund zehn Millionen Arbeiter und Arbeiterinnen im Ausland stammt aus den ländlichen Regionen von Bangladesch. Deren Geldüberweisungen nach Hause haben massgeblich zur Modernisierung der Landwirtschaft beigetragen», sagt der Ökonom Hossain Zillur Rahman. Seine Denkfabrik Power Participation Research Center hat sich der Erforschung von Armutsreduktion verschrieben.
Auch da haben die Frauen massgeblich mitgewirkt. «Ein grosser Teil seiner Entwicklung hat Bangladesch den Frauen zu verdanken», sagt Frauenrechtsaktivistin Shireen Huq.
In der Politik wirkte sich das aber nur bedingt aus. Obschon das Land über die längste Zeit von zwei Premierministerinnen regiert wurde.
Machtkampf zwischen zwei Premierministerinnen
Seit dem demokratischen Neustart 1991 wurde Bangladesch die meiste Zeit von zwei Frauen regiert: Von Khaleda Zia, von der BNP, welche dem Militär nahesteht und von der Tochter des Vaters der Nation, Sheikh Hasina, von der Awami-Liga.
Dies hatte aber nicht mehr als eine symbolische Wirkung auf die Frauen. In Sachen Gesetze habe keine Premierministerin des Landes viel für die Frauen getan, sagt Shireen Huq: «Viele frauendiskriminierende Gesetze existieren heute weiter. Häusliche Gewalt wird in Bangladesch immer noch als Bagatelldelikt behandelt. In Erbschaftsfragen sind Frauen nach wie vor benachteiligt.»
Solche Gesetze haben oft einen religiösen Hintergrund. Sie abzuändern würde Wählerstimmen der mächtigen religiös-konservativen Kreise im Land kosten. Das kann sich im zu 90 Prozent von Muslimen bewohnten Bangladesch keine Regierung leisten.
«Im Kampf um die Macht im Land haben sich die BNP und die Awami-Liga über die Jahre immer mehr den religiösen Kräften im Land angepasst. Dabei gerät das zweite der vier Gründerprinzipien in Mitleidenschaft: Der Säkularismus», sagt der Zeitungsredakteur Mahfuz Anam.
Während den 1990er und frühen 2000er-Jahre wechselten sich Khaleda Zia von der BNP und Sheikh Hasina von der Awami-Liga regelmässig als Premierministerinnen ab. Einmal gewann diese Partei, einmal die andere.
Was nach einem demokratischen Prozess aussieht, war in Tat und Wahrheit ein Machtkampf ums politische Überleben der beiden politischen Führerinnen. Die beiden hassten sich aufs Blut, sagt der Historiker und Schriftsteller Afsan Chowdhury. «Für Sheikh Hasina ist die BNP nicht einfach nur eine Oppositionspartei, sondern die Partei, die ihren Vater umbrachte.»
Die BNP-Führerin Khaleda Zia ist die Witwe des Armeechefs zu Zeiten des Armeeputsches, der Mujibur Rahman das Leben kostete. Hasina macht die BNP für die Ermordung ihres Vaters verantwortlich.
Für den Zeitungsredakteur Mahfuz Anam vergiftete die Fehde zwischen den beiden Politikerinnen den dritten Pfeiler der 1971 ausgerufenen Nation, die Demokratie: «Die Beziehung zwischen den beiden Parteien war dermassen von Hass erfüllt, dass keine demokratische Kultur gedeihen konnte.»
Demokratische Werte unter Beschuss
Den Machtkampf hat Sheikh Hasina von der Awami-Liga für sich entschieden. Seit 2014 ist sie an der Macht. Just vor den letzten Wahlen 2018 wurde ihre Erzfeindin wegen Korruption zu fünf Jahren Haft verurteilt. Das hinderte Zia für die BNP an den Wahlen teilzunehmen.
Seit über einem Jahr schwer erkrankt, lässt sie ihre Erzfeindin, Premierministerin Sheikh Hasina, nicht einmal zur Pflege ausreisen. Zu tief sitzt der Hass oder die Angst vor einem politischen Comeback der BNP. Ein solches scheint zurzeit ausgeschlossen. Hasinas Awami-Liga besetzt 301 der insgesamt 350 Sitze im Parlament.
Hasina hat gewonnen. Doch litten im erbitterten Machtkampf zwischen den Parteien die demokratischen Grundwerte, sagt Meenakshi Gangouli von Human Rights Watch: «Dissidentinnen, Regierungskritiker oder unliebsame Stimmen verschwanden während des Kampfes um die Macht im Land. Seit 2009 hat Human Rights Watch 86 Entführungen dokumentiert, lokale Menschenrechtsorganisationen gehen von weit über 500 Fällen aus.»
Diese Entführungen haben, so Gangouli, mit der Entstehung einer paramilitärischen Einsatztruppe zu tun. Dem Rapid Action Bataillon, welches von der BNP nach den Attacken vom 11. September ins Leben gerufen wurde: Diese Einheit würde eigenhändig über Schuld oder Unschuld von Verdächtigen entscheiden und diese sogleich exekutieren. Zudem hat ein digitales Sicherheitsgesetz aus dem Jahr 2018 Blogger und auch die Presse praktisch zum Schweigen gebracht. «Dieses Gesetz verbietet jegliche Kritik an der Regierung und deren Chefs», sagt Gagouli.
So ist von den vier Gründungsprinzipien nur noch der Nationalismus geblieben. Jedoch ein anderer als 1971. Damals verhalf die Partei der bengalischen Nation zur Unabhängigkeit, heute ist die Partei eine nahezu diktatorische Staatsgewalt, welche schon den kleinsten Widerstand im Keim erstickt.