Rosemarie Fischlin war bereits pensioniert, als eine Kollegin sie fragte, ob sie nicht kurzfristig in einem Kindergarten aushelfen könnte. Das tat sie. Nach einem weiteren Kurzeinsatz kam ein Schreiben vom Kanton St. Gallen: Wegen des Fachkräftemangels fragte der Kanton pensionierte Lehrerinnen und Lehrer, ob sie sich einen Wiedereinstieg vorstellen könnten.
Inzwischen ist sie 69 Jahre alt und unterrichtet eine Integrationsklasse in Altstätten. Gemeinsam mit einer Ukrainerin, die vor einem Jahr aus Mariupol geflüchtet ist, hilft sie Kindern zwischen 7 und 16 Jahren, in der Schweiz anzukommen.
«Es ist herausfordernd für mich gewesen, da ich ja eigentlich damit abgeschlossen hatte», erinnert sie sich. «Aber dann habe ich gemerkt, wie viel Freude es mir bringt.»
Ähnlich ereignete sich der Wiedereinstieg bei Roland Châtelain. Der 67-Jährige war bereits rund drei Jahre pensioniert, nach 34 Jahren als Rettungssanitäter. Da rief Martin Gabi an. Der Leiter der Sanität Basel-Stadt suchte händeringend nach Personal. Die Rettungseinsätze in Basel waren übermässig angestiegen.
10 Prozent der über 65-Jährigen wären bereit
Châtelain sei überrascht gewesen, aber auch erfreut: «Es ist ja schön, wenn man noch einmal angefragt wird. Dann hat man seinen Job vermutlich nicht allzu schlecht gemacht.»
Nun arbeitet er rund zwei Tage pro Woche. Die 12-Stunden-Schichten könne er noch gut wegstecken. Aber: «Früher ist man am Abend vielleicht noch einen schnappen gegangen. Jetzt gehe ich nach dem Dienst nach Hause und klinke mich aus.»
Ich brauche mehr Zeit, um zu regenerieren.
Auch Rosemarie Fischlin merkt, dass nicht mehr alles möglich ist: «Ich merke die Lärmempfindlichkeit. Und die Belastbarkeit hat sich verändert. Ich brauche mehr Zeit, um zu regenerieren.»
Roland Châtelain und Rosemarie Fischlin gehören zu einer Minderheit. Laut der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) wären 10 Prozent der Pensionierten zwischen 65 und 70 Jahren bereit, wieder zu arbeiten. Diejenigen, die es tatsächlich tun, dürften deutlich weniger sein.
Ein Fünftel arbeitet über das Rentenalter hinaus
Ein anderes Phänomen ist verbreiteter: gar nicht erst in Ruhestand zu gehen. Ende 2022 waren in der Schweiz 183'000 Menschen über 65 berufstätig.
Laut einer Studie von Swiss Life von 2021 arbeitet ein Fünftel der Angestellten über das ordentliche Rentenalter hinaus. Vor der Pensionierung geben in der Befragung noch rund 42 Prozent an, sich das vorstellen zu können. Tatsächlich länger arbeiten tun am Ende also weniger.
In gewissen Branchen, wie beispielsweise der Landwirtschaft oder der Kunst, ist die Arbeit über das Rentenalter hinaus gar die Regel. Hingegen gehen Bankangestellte vergleichsweise früh in Pension.
Ältere Arbeitskräfte haben andere Bedürfnisse
Arbeitgeber müssten sich auf ältere Arbeitskräfte spezifisch einstellen, sagt Alexander Widmer. Er ist Teil der Geschäftsführung der Non-Profit-Organisation Pro Senectute. HR-Abteilungen sollten sich weniger um Frühpensionierungen kümmern, sondern mehr auf die Verlängerung der Arbeitszeit.
Dem stimmen auch die Betroffenen zu. In einer Umfrage von Swiss Life finden mehr als 70 Prozent der Erwerbstätigen vor dem Pensionsalter: Unternehmen sollten mehr Anreize schaffen, dass Arbeit nach der Pensionierung attraktiver wird.
Bei Sanitäter Roland Châtelain ist das gegeben. Leiter Martin Gabi sagt: «Sie können frei wählen, wie viele Dienste sie pro Monat übernehmen wollen. Das funktioniert sehr gut.» Gabi konnte 5 Pensionierte in den Dienst zurückholen.
Auch Rosemarie Fischlin ist mit ihrem 50-Prozent-Pensum in der Integrationsklasse zufrieden. Sie führt nebenbei noch eine Yoga-Schule. Dennoch ist sie froh, wieder eingestiegen zu sein. «Ich schätze die Vielfältigkeit und die Kreativität in diesem Job. Und ich empfinde es auch als Bereicherung, im gegenwärtigen Moment zu sein. Man muss das Kind dort abholen, wo es gerade ist.»
Die Arbeit im Alter habe auch Vorteile: «Ich bin ruhiger und gelassener im Umgang mit den Kindern und mit den Kolleginnen und Kollegen. Ich habe sehr viel Geduld», sagt Fischlin. Das bestätigt auch ihr Vorgesetzter, Schulleiter Marco Schraner: «Pensionierte Lehrpersonen bringen Ruhe und Gelassenheit in den Schulbetrieb – auch eine gewisse Abgeklärtheit. Das tut gut.»
Rosemarie Fischlin will weitermachen, solange es Spass macht. «Aber ich denke, ungefähr mit 70 Jahren wird es dann Zeit, mich wirklich zu verabschieden.» Auch Roland Châtelain denkt, dass er im Laufe dieses Jahres definitiv in den Ruhestand gehen wird.
Arbeit über das Pensionsalter hinaus ist eine Entscheidung auf Zeit – aber eine Entscheidung, die für beide Seiten ein Gewinn sein kann.