Clariant untersucht seit September Unregelmässigkeiten in der Buchhaltung. Der Hinweis kam von internen Whistleblowern. Wie kam es dazu? Auskunft gibt Sandra Middel von der Compliance-Abteilung des Chemiekonzerns.
SRF News: Im September 2021 soll eine Whistleblowing-Meldung bei der internen Compliance-Stelle eingegangen sein. Wie haben Sie davon erfahren?
Sandra Middel: Ja, ich erinnere mich sehr gut an diesen Moment. Es waren Whistleblower, die mich vorgängig kontaktiert hatten. Sie wollten gerne verstehen, wie unser System funktioniert. Und sie haben sich dann entschlossen, eine Meldung zu machen.
War ihnen sofort klar, dass das eine grössere Geschichte werden könnte?
Nein. Es ist immer schwierig, im ersten Moment so eine Entscheidung zu treffen. Normalerweise schauen wir die verschiedenen Themen, die aufgebracht werden, genau an und halten Rücksprache. In diesem Fall kontaktierte ich unseren Head Internal Audit, um auch seine Sichtweise zu verstehen und herauszufinden, ob die Meldung seriös ist.
Haben Sie den Chef des Internal Audit (interne Revisionsstelle) kontaktiert, weil der Vorgang mutmasslich in seiner Abteilung passiert war?
Nein. Er war vielmehr ein Sparringpartner für mich. Es ist immer gut, wenn man bei komplexeren Fällen eine Vertrauensperson hinzuziehen kann. Bei Fällen im Bereich des Personals sind es typischerweise die HR-Kollegen. In diesem Fall habe ich mich hingegen für die interne Revision entschieden.
Es ist immer gut, wenn man bei komplexeren Fällen eine Vertrauensperson hinzuziehen kann.
Interessanterweise sagen Sie, dass die Leute zu Ihnen gekommen sind, um zu erfahren, wie genau das Whistleblowing-System bei Clariant funktioniert. Das heisst: Sie kannten die Whistleblower schon vor dem Erstatten der Meldung?
Das ist richtig, ja. Und ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt. Die «Integrity Line», die wir nutzen, ist eine Plattform, die von einem externen Anbieter im Namen von Clariant angeboten wird. Vor allem bei gravierenderen Meldungen ist es für die Person immer sehr wichtig zu verstehen, wie das ganze Meldesystem funktioniert, wer dahintersteht. In diesem Fall haben mir die Whistleblower einige Male gesagt, Vertrauen sei ein enorm wichtiger Faktor, um dann schlussendlich auch eine Meldung abzugeben.
Wenn Sie da so einen Effort gemacht haben, heisst es auch, dass bei Clariant vorher vieles im Argen lag beim Thema Whistleblowing?
Das würde ich nicht sagen. Ich denke, jede Firma, die sich mit dem Thema auseinandersetzt, weiss, dass es noch keinen wirklich guten Schutz gibt für Hinweisgeber in der Schweiz. Clariant hat sich schon 2014 dazu entschieden, so eine externe Whistleblowing-Hotline aufzubauen, aber das ist ein sehr langfristiges Projekt.
In der Schweiz gibt es noch keinen wirklich guten Schutz für Hinweisgeber.
Es genügt nicht, dass Sie einen Vertrag unterschreiben mit einem Provider. Sie brauchen wirklich einen langen Atem und eine Strategie, wie Sie das aufbauen möchten: Wie geht man mit Fällen um, was gibt man für Rückmeldungen an die Organisation, und wie stellt sich das Management dazu?
Wo steht Clariant auf dieser Reise, wenn Sie sagen, es brauche einen langen Atem?
Wir haben in den letzten Jahren recht grosse Fortschritte gemacht durch eine transparentere Kommunikation, auch über Vorfälle. Zudem haben wir stark mit den Führungskräften zusammengearbeitet, damit sie die Hinweise erkennen, und dass sie richtig reagieren. Studien belegen, dass die meisten Hinweise an die Führungskräfte kommen. Wie diese damit umgehen, ist sehr wichtig. Es geht um Vertrauen: Man nimmt Hinweise ernst.
Das Gespräch führte Eveline Kobler.