Welchen Lohn brauchst du pro Monat, damit du nicht ins Minus fällst? Würde dich ein höherer Betrag glücklicher machen? Anhand einer solchen Frageliste errechnet jeder und jede bei Dezentrum den eigenen Lohn.
Bedarfslohn als Experiment
Diesen sogenannten Bedarfslohn hat die Stadtzürcher Denkfabrik anfangs November eingeführt. Die Idee: Weder die Funktion, die Qualifikation noch die Leistung sollen den Lohn bestimmen, sondern die Lebenssituation. Als Experiment probiert der Thinktank dieses neuartige Lohnmodell aus.
«Jemand wurde beispielsweise gerade Vater», sagt Jeannie Schneider. Sie gehört zu den zehn Partnerinnen und Partnern der Firma. «Es ist klar, dass er deshalb mehr Geld braucht als jemand, der in einer WG wohnt.» Das Verständnis im Team für die Lebensumstände und den daraus abgeleiteten Bedarf sei gross. Und bei den Diskussionen darüber habe sich ein stärkeres gegenseitiges Vertrauen herauskristallisiert.
Zwischen 6000 und 8500 Franken Lohn
Das neue Lohnsystem setzt sich aus zwei Elementen zusammen: Alle verdienen auf ein 100-Prozent-Pensum gerechnet einen Grundlohn von 6000 Franken – je nach Bedarf gibt es bis zu 2500 Franken pro Monat zusätzlich.
Wie viel dann jemand tatsächlich erhält, diskutiert das ganze Team. Es gehe bei diesem Gespräch nicht um Überwachung, sagt Partnerin Ramona Sprenger: «Die Idee hinter dem Gespräch ist, dass man über die Bedeutung des Bedarfs diskutiert und merkt, was andere darin einfliessen lassen.»
Radikales System, sagt die Expertin
Ursprünglich gab es einen Einheitslohn. «Doch gewisse Mitglieder waren damit nicht mehr zufrieden», sagt Jeannie Schneider. Deshalb wurde ein neues Lohnsystem gesucht. Partner Ruben Feurer spricht von einem «längeren und nicht unkomplizierten Weg». Dreiviertel Jahre habe es gedauert, bis das Team den Bedarfslohn entwickelt hat.
Dieses Modell von Dezentrum sei tatsächlich neu, sagt Antoinette Weibel, Professorin für Personalmanagement an der Universität St. Gallen. Und zwar dahingehend, dass es dabei bewusst um den Bedarf gehe und nicht etwa um die Leistungen oder Kompetenzen, so wie das bereits andere Unternehmen handhabten.
Doch kann der Bedarfslohn nicht auch zum Stolperstein werden? Schliesslich könnte er neue Bewerber abschrecken, denen ein sehr hoher Lohn wichtig ist. Solche Personen würden sich ohnehin nicht bewerben, sagt Jeannie Schneider: «Denn es ist klar, dass man hier nie in ein Lohnsegment wie in der Beratung oder bei Banken kommt.»
Halbjährliche Anpassungen möglich
Noch ist offen, ob das Experiment tatsächlich funktioniert. Geplant ist, dass man halbjährlich den Lohn neu verhandeln kann.
Je nach Lebenssituation gibt es Anpassungen. Das sei ein Vorteil, so Ruben Feurer. «Im Verlauf des Lebens verändert sich der Bedarf einer Person. Und im Gegensatz zu Lohnsystemen, die statischer sind, geht dieses Modell darauf ein.»
Im Verlauf des Lebens verändert sich der Bedarf einer Person.
Das Team ist sich aber bewusst, dass der Versuch auch scheitern kann. «Wir sehen es als Experiment, dass man jederzeit abbrechen kann», sagt Feurer.
Für Antoinette Weibel von der Uni St. Gallen ist es vorstellbar, dass es bei Dezentrum funktioniert. Denn es komme einerseits auf die Grösse eines Unternehmens und das Verantwortungsbewusstsein innerhalb des Teams an. Andererseits sei die Art der Arbeit entscheidend – und bei einem Thinktank, bei dem Kooperation wichtig sei, könnte es funktionieren, da es nicht um quantitative Einzelleistungen gehe.