Charles Flükiger tut gerne Ungewohntes. Zum Beispiel dies: Er nimmt einen Turnschuh und stellt ihn in einen Röntgenstrahler. Wenn er danach am Bildschirm das Röntgenbild betrachtet, kann er optisch in den Schuh hineinfahren.
Flükiger kommt ins Schwärmen. «Ich sehe Konturen, Materialien, Innen- und Aussenleben des Turnschuhes, ich sehe detaillierte Nähte. Ich sehe alles über das Objekt.»
Flükiger hatte mehrere Führungspositionen in anderen Branchen inne, zuletzt beim börsenkotierten Elektrotechnik-Unternehmen Comet. Nun will er mit seinem Start-up «So Real» die Digitalisierung in der Modebranche vorantreiben.
«Kunden bleiben 20-mal länger auf dem Objekt»
«So Real» hat eine Software entwickelt, welche die riesigen Datenmengen aus dem Röntgenbild für Online-Shops nutzbar machen. Sie erstellt einen digitalen Zwilling, ein dreidimensionales Modell des Schuhs.
Ich sehe Konturen, Materialien, Innen- und Aussenleben des Turnschuhes – ich sehe alles über das Objekt.
Diesen digitalen Zwilling können Modefirmen in ihrem Online-Shop zeigen. Kundinnen und Kunden, die dort ein 3D-Modell vorfinden, «bleiben 20-mal länger auf dem Objekt, als wenn sie nur ein 2D-Bild sehen», sagt Flükiger und verweist auf entsprechende Studien. Und: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Objekt dann auch in den Warenkorb gelegt werde, sei viermal höher.
Vor allem aber helfe der digitale Zwilling den Kundinnen und Kunden, die richtige Grösse zu bestellen – und damit helfen sie Online-Modehändlern, Retouren zu vermeiden. Denn: Dereinst würden Kunden zugleich ein digitales Abbild ihres Fusses haben.
«In unserem Modell sind Masse und Form des Schuhs genau abgebildet. Wenn das perfekt zum digitalen Abbild des Fusses passt, gibt es keinen Grund, einen bestellten Schuh zurückzuschicken», sagt Flükiger.
Zalando hat ETH-Spin-Off gekauft und baut jetzt aus
Digitale Abbilder nicht vom Fuss, sondern vom Körper gibt es dank einer anderen Schweizer Entwicklung: Das ETH-Spin-off Fision hat eine App entwickelt, mit der Kundinnen und Kunden ihren Körper selbst scannen können, um ein digitales Abbild online zu stellen.
Vergangenes Jahr hat Zalando Fision übernommen. Der deutsche Online-Riese arbeitet darauf hin, dass Kunden dank dieser neuen Möglichkeiten nur noch bestellen, was wirklich passt.
Dafür baut Zalando im Zürcher Prime Tower ein Technologie-Zentrum mit 150 Mitarbeitenden auf. Dass man Zürich gewählt habe, hänge auch mit der Nähe zur ETH Zürich zusammen, sagt Zalando-Managerin Stacia Carr.
Wir waren Teil des Problems, jetzt wollen wir Teil der Lösung werden.
Heute schickten Zalando-Kunden jedes zweite Kleidungsstück zurück, sagt Carr. Davon jedes dritte, weil die Grösse nicht stimme. Hauptgrund: «Die verschiedenen Modemarken haben keine standardisierten Grössen. Für Kunden macht es das schwierig: Ist nun Grösse 38 der einen Marke auch Grösse 38 der anderen Marke?»
Zalando: «Wir waren Teil des Problems»
Weniger Retouren bedeutet weniger unnötigen Versand und wohl auch weniger Kleiderproduktion – letztlich also weniger CO₂-Ausstoss. Und ein besseres Image für die Modebranche.
Stacia Carr: «Die Modeindustrie ist die zweitgrösste Umweltverschmutzerin auf dem Planeten. Wir waren Teil des Problems, jetzt wollen wir Teil der Lösung werden.»
Charles Flükiger verrät nicht, ob er schon von Zalando kontaktiert wurde. Mit den Projektpartnern habe er Stillhalte-Vereinbarungen – es aber seien internationale Modehäuser darunter. Modehäuser, die bei der Digitalisierung auf Hilfe aus der Schweiz setzen.
Uni Lugano: 15 Nationen in einer Masterklasse
Nicht nur Schweizer Technologie hilft der internationalen Modebranche. Die Università della Svizzera italiana, die Universität in Lugano, ist ein Zentrum für junge Menschen, die die Digitalisierung der Moderiesen mitgestalten wollen.
Nadzeya Kalbaska unterrichtet in Lugano Master-Studierende aus 15 Nationen in digitaler Modekommunikation. Ein Studiengang in Zusammenarbeit mit der Pariser Sorbonne – das sei europaweit einzigartig.
«Die Digitalisierung schreitet voran, und es braucht Experten, die in der Lage sind, die digitalen Prozesse in den Modefirmen zu lenken», sagt Kalbaska. Man habe gesehen, welche Rolle die Digitalisierung beim Bewältigen der Coronakrise spielte. «All das braucht Führung, und wir hoffen, dass wir unsere Studenten dorthin bringen können», so die Dozentin.
Die Studentinnen sind überzeugt, dass jene Modekonzerne verlieren, die mit der raschen Digitalisierung nicht schritthalten. Und: Sie haben dank der Uni Lugano einen direkten Draht zu internationalen Modekonzernen, die sich im Tessin angesiedelt haben (mehr dazu in den Video-Interviews oben).