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Schweizer Textilindustrie Die letzte Zürcher Weberei ist am Ende

Im 19. Jahrhundert war der Textilsektor wichtigster Schweizer Industriezweig. Heute sind Schweizer Textilfirmen nur noch in Nischen präsent. Mit der Weberei Russikon schliesst eines der letzten Bollwerke der einst so stolzen Branche.

Ein letztes Mal rattern die Webmaschinen. Bis zum Schluss wollen die 55 Mitarbeitenden höchste Qualität abliefern. Zuletzt produzierten sie in der Weberei Russikon Damast – ein edler, dicker Stoff, aus dem später Gewänder für gutbetuchte Menschen in Westafrika gefertigt werden.

Die letzte Nische der Weberei Russikon zeigt sinnbildlich, wie sich der Betrieb in einer dynamischen Branche immer wieder neu erfinden musste. Doch wegen der Inflation in Westafrika und den – auch wegen des starken Frankens – immer höheren Produktionskosten in der Schweiz, ist nun endgültig Schluss.

Textilmaschine in einer Fabrikhalle.
Legende: 55 Mitarbeitende produzierten bis zuletzt auf 96 modernsten Webmaschinen Jacquard-Damast für westafrikanische Gewänder. SRF / Marco Schnurrenberger

Zum definitiven Ende der Weberei will sich beim Besuch von SRF in Russikon niemand vor der Kamera äussern – offenbar eine Weisung der österreichischen Eigentümerin Getzner. Diese hielt den Betrieb während der letzten 30 Jahre trotz eines schwierigen Marktumfeldes und hoher Standortkosten am Laufen, fand zuletzt aber keine Alternative mehr als die Schliessung.

Die gedrückte Stimmung bei der Belegschaft ist spürbar. Viele stehen – trotz des offenbar grosszügigen Sozialplans – vor dem Nichts. Mit der Weberei in Russikon muss auch der letzte Zürcher Textilindustriebetrieb dieser Art aufgeben. Alternativen gibt es für jene, die zeitlebens in der Branche gearbeitet haben, praktisch keine mehr.

Geschichte der Weberei Russikon

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Die Weberei Russikon ist eine Tochtergesellschaft der österreichischen Firma Getzner. Der Betrieb wurde 1890 als Teppichweberei gegründet. Jahrzehntelang wurde in der Weberei vor allem Baumwolle und Seide produziert. Zuletzt war sie aber spezialisiert auf die Herstellung von hochwertigem Jacquard-Rohgewebe für Damast. Daraus werden westafrikanische Gewänder gefertigt. Im Betrieb standen zuletzt noch 96 Webmaschinen im Einsatz, die von 55 Mitarbeitenden bedient wurden.

Im Dorfkern trifft SRF auf den ehemaligen Gemeindeschreiber. Von 1987 bis 2008 hat Kurt Gubler die Entwicklung der Weberei in seinem Amt miterlebt. Es sei ein Sterben auf Raten gewesen. «1962 mussten sie noch anbauen, um alle Aufträge erledigen zu können.» Danach sei es sukzessive abwärts gegangen.

Wir waren froh, wenn sie alle Löhne zahlen konnten.
Autor: Kurt Gubler Ehemaliger Gemeindeschreiber Russikon (1987 bis 2008)

Bis zum Ende seiner Zeit als Gemeindeschreiber habe sich die Zahl der Mitarbeitenden auf 100 Leute halbiert. Für die Gemeinde war der Industriebetrieb zwar der grösste Arbeitgeber, steuerlich rentabel war die Weberei für Russikon in dieser Zeit aber bereits nicht mehr. «Wir waren froh, wenn sie alle Löhne zahlen konnten», erinnert sich Gubler.

Impressionen aus der Weberei Russikon über die Zeit

Tatsächlich sei es höchst erstaunlich, dass sich der Betrieb so lange habe halten können, sagt Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann, der zur Schweizer Textilindustrie geforscht hat. Denn: «Mit Massenproduktion hatten Webereien hierzulande schon lange keine Chance mehr.»

Der Historiker erklärt, dass der Betrieb in Russikon immer wieder auf neue Produkte umstellte und so stets eine neue Nische gefunden habe. «Das Geschäft mit den afrikanischen Stoffen war dann aber zu wenig zuverlässig», so Straumann. Er spricht damit auf die politisch und mit Blick auf die Inflation geringe Stabilität im Abnehmermarkt Westafrika an.

Aufschwung und Niedergang

Früher war die Schweizer Textilindustrie neben jener Grossbritanniens weltweit führend. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war sie gar der wichtigste Schweizer Industriezweig. So entstanden beispielsweise im Zürcher Oberland – vor allem entlang der Töss, zahlreiche Spinnereien und Webereien. Doch die rasante Entwicklung des Textilsektors zeigte sich landesweit.

Teil des Erfolgs waren anfänglich Bauernfamilien, die auf einen Zusatzverdienst angewiesen waren. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren es dann die Zuwanderer – vor allem Italiener, die als billige Arbeitskräfte dienten.

Im Jahr 1882 war über die Hälfte der Schweizer Fabrikangestellten in der Textilindustrie tätig. Bis 1929 stieg die Anzahl Textilfabrikarbeiter nochmals leicht von 84'600 auf 91'100. Gleichzeitig verdreifachte sich in dieser Zeit jedoch die Gesamtzahl der Fabrikangestellten in der Schweiz. Das zeigt: Die Wichtigkeit von Webereien und Spinnereien nahm schon bei der Jahrhundertwende allmählich ab.

Die Textilindustrie ist der Anfang des Aufstiegs von Europa.
Autor: Tobias Straumann Wirtschaftshistoriker Universität Zürich

Mit der zunehmenden Macht der Gewerkschaften verteuerten sich die Personalkosten für die Textilindustrie in der Schweiz zunehmend. Schubweise verschob sich die Produktion ins Ausland. «Das hat schon im späten 19. Jahrhundert begonnen.» Geblieben ist laut Tobias Straumann jedoch der wirtschaftliche Reichtum: «Die Textilindustrie ist der Anfang des Aufstiegs von Europa.»

Zukunft der Schweizer Textilindustrie

Heute beschäftigt der Textilsektor der Schweiz noch 16'700 Angestellte. Im internationalen Wettbewerb für Massenprodukte haben Schweizer Betriebe keine Chance mehr. Doch die immerhin noch rund 250 Schweizer Textilunternehmen haben Nischenmärkte gefunden, in denen sie wegen ihres technologischen Wissens noch immer mithalten können.

Wir sind dort stark, wo es nicht um Kosten, sondern um Innovation geht.
Autor: Peter Flückiger Geschäftsführer Swiss Textiles

Der Geschäftsführer des Branchenverbands Swiss Textiles, Peter Flückiger, nennt im Interview mit SRF beispielsweise Textilprodukte für Blutfilter und Implantate in der Medizinaltechnik sowie Sitzbezüge für die Airline-Industrie. «Wir sind dort stark, wo es nicht um Kosten, sondern um Innovation geht.»

Eine wichtige Rolle könnten Schweizer Textilfirmen laut Peter Flückiger auch beim Recycling spielen. Immer mehr Fast Fashion aus Asien kommt auf den Markt. Oft landen diese Kleider heute am Ende ihres kurzen Lebenszyklus auf Deponien in der Dritten Welt. Das Ziel müsse sein, dass solche Kleider künftig «chemisch rezykliert» werden – da gehe es wieder um Innovation.

Peter Flückiger hofft, dass Mitarbeitende aus «alten» Textilbetrieben wie der Weberei Russikon künftig für solche neuen Geschäftsfelder eingesetzt werden könnten. Dafür müssten sich diese jedoch weiterentwickeln. «Es sind neue Fähigkeiten gefragt.» Man schaue im konkreten Fall als Branchenverband, ob es für die 55 Mitarbeitenden der Weberei Möglichkeiten gebe, verspricht Flückiger.

Damast kommt jetzt aus Österreich

In Russikon wollen diesen Prozess längst nicht alle mitmachen. Ein Mann sagt beim Besuch von SRF in der Weberei, er sei jetzt 63 Jahre alt und habe zeitlebens in nur zwei Textilbetrieben gearbeitet. Der eine sei schon vor Jahrzehnten Konkurs gegangen, seither arbeite er hier in Russikon.

Die letzten Tage in der Weberei Russikon

Nach dem Ende beim zweiten Arbeitgeber in seinem Alter nochmals auf Stellensuche gehen mag er nicht, genauso wenig will er zum RAV. Er gehe lieber gleich in Frühpension – mit dem Ersparten gehe das schon auf.

Der ehemalige Gemeindeschreiber Kurt Gubler sagt dazu mit spürbarem Bedauern, dass es «solche Anstellungsverhältnisse oder Berufe» schlicht nicht mehr gibt. Nun sei eben die Gemeinde und nicht mehr die Weberei der grösste Arbeitgeber in Russikon.

Die Produktion von Damast für afrikanische Gewänder geht ausserhalb des Zürcher Oberlands weiter. Die Firma Getzner produziert und veredelt den Stoff künftig einfach nur noch in Österreich und Deutschland. Die Schweizer Produktion wurde – wie sooft in der Geschichte der Textilindustrie – letztlich zu teuer.

Schweiz aktuell, 31.3.2025, 19 Uhr;stal

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