Minutiös haben Forscherinnen der renommierten Universität Yale vom ersten Tag an des Angriffs Russlands auf die Ukraine Firmen aufgespürt, die sich teilweise oder ganz aus Russland zurückgezogen, ihre Fabriken verkauft oder verschenkt oder ihre Aktivitäten eingestellt haben. Über 1300 bekannte Firmen aus aller Welt befinden sich aktuell in der Yale-Datenbank. 840 davon haben entweder alles verkauft oder jede wirtschaftliche Aktivität suspendiert.
Scharfe Kritik aus Yale
Die Datenbank aus Yale war bis jetzt unumstritten – bis letzte Woche. Da publizierten Forschende der Universität St. Gallen HSG und der Lausanner Wirtschaftshochschule IMD eine Studie, der zufolge nur gerade 8.5 Prozent der Firmen aus der EU, Grossbritannien, Japan, Kanada und den USA Russland ganz verlassen hätten. In absoluten Zahlen sind das bloss deren 120.
Die Wissenschaftler aus Yale reagieren empört und sparen nicht mit Kritik: Die Daten der Schweizer Studie hielten einer Überprüfung nicht stand, sagt Yale-Wirtschaftsprofessor Jeffrey Sonnenfeld. Jeder, der lesen könne, sehe, dass es im Schweizer Datensatz Hunderte von russischen Individuen, Oligarchen und Firmen habe.
Russische Firmen mitzählen – oder nicht?
«Diese Daten zeigen, dass russische Firmen Russland nicht verlassen haben. Aber daraus zu folgern, dass sich 8.5 Prozent der westlichen Firmen aus Russland verabschiedet hätten, ist irreführend», so Sonnenfeld weiter.
Zudem fehlten in den HSG-Daten die bekanntesten Firmen, die Russland den Rücken gekehrt hätten – wie Amazon, American Airlines, American Express, BP, Boston Consulting Group, Goldman Sachs, Citigroup, Chevron, Exxon, Marriott und viele andere mehr. Auch Schweizer Firmen sind nicht erfasst.
Sonnenfeld sagt, er habe im Oktober, angesichts einer ersten Fassung der Studie HSG und IMD auf die irreführende Datenbasis aufmerksam gemacht. Geschehen sei nichts. Man wolle keinen Streit mit der HSG, betont der Yale-Professor. Doch: «Es sind irreführende Daten, eine akademische Lüge!»
Die Forschenden von HSG und IMD verteidigen sich damit, dass sie Firmen, die Russland verlassen, von Russland aus gesucht hätten. Sie hätten Daten von in Russland tätigen Unternehmen oder Personen genommen, die mindestens einen Sitz in einem westlichen Land hätten. Zum Beispiel Yandex: Yandex ist das russische Pendant zu Google – und hat einen Sitz in den Niederlanden.
Unterschiedliche Kriterien
Deshalb lande der russische Konzern Yandex im HSG-Datensatz, bestätigt der St. Galler Professor Simon Evenett. Andere Beispiele sind X5, Rusal, Uralchem oder Severstal.
Einige der wichtigsten russischen Firmen:
Firmenname | Tätigkeitsbereich |
Yandex | Russlands Pendent zu Google |
X5 | Russische Version von Walmart |
LSS Varshavskaya | St. Petersburger Immobilienentwickler |
Uralchem | Einer der grössten Petrochemiekonzerne Russlands |
Rusal | Aluminiumimperium von Oleg Deripaska |
Evraz | Bergbaukonzern von Abramovich/Abramov. |
Severstal | Stahlkonzern von Alexey Mordashov |
Ozon Holdings | Russlands E-Commerce Gigant |
Ros Agro | Einer der grössten Rohstoffkonzerne Russlands |
Im Institut von Professor Sonnenfeld aber regt man sich darüber auf, weil sich russische Grosskonzerne und Oligarchen ja kaum aus Russland zurückziehen können. Als Rückzug aus Russland gilt in der HSG-Studie zudem nur, wenn eine Niederlassung in Russland effektiv verkauft worden ist.
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Während Professor Sonnenfeld oder die School of Economics in Kiew auch in anderen Fällen von Rückzug spricht: etwa, wenn eine Firma ihre Aktivität einstellt – weil es wirtschaftlich einem Exit gleichkomme, wenn man alles runterfahre, Angestellte entlasse, keine Produkte mehr herstelle und verkaufe – aber die Anlagen behalte, weil man eine Rückkehr in Zukunft nicht ausschliessen wolle, so die Yale-Forscher.