SRF News: Sie schreiben, für die einen sei das WEF ein Wallfahrtsort der Kapitalisten, für die anderen das Sammelbecken unkritischer Globalisierungsjünger. Was ist es wirklich?
Jürgen Dunsch: In erster Linie ist das WEF seit Beginn ein Treffen von Unternehmern und ein grosser Networking-Anlass. Ein Konzernchef wird in Davos in nur einer Woche vielleicht 20 Prozent der Kontakte treffen und pflegen können, die für ihn wichtig sind. Ausserdem wollen die Unternehmensvertreter hier die globalen Trends spüren und ihren Horizont erweitern.
Sie suchen also nach neuen Perspektiven?
Die Chefs müssen sich immer wieder Fragen, ob sie und ihre Unternehmen für die wichtigen und kommenden Themen richtig aufgestellt sind. Dabei helfen die unzähligen Veranstaltungen am WEF. Über allem steht bis heute und ungeachtet aller populistischen Tendenzen ein Bekenntnis zur Globalisierung, die als unvermeidbar betrachtet wird. Das ist ein Lebenselixier für das WEF. Gründer Klaus Schwab bringt dazu weitere Komponenten hinein: die grosse Themenbreite, die Mission Weltverbesserung, und er lockt Politiker.
Geht es in Davos aber nicht in erster Linie um Geschäfte?
Die sind wichtig, aber man darf sich das nicht so vorstellen, dass in dunklen Hinterzimmern bedeutende Verträge abgeschlossen werden. Es geht mehr um Gespräche und neue Kontakte: Man spricht mit Branchenkollegen, fragt, welche Probleme sie bewegen, analysiert die Märkte. In Davos wird Vertrauen aufgebaut und das Gefühl für künftige Geschäftsmöglichkeiten geschärft.
Der ‹Davos Man› ist ein wichtiger Verfechter der freien Märkte.
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Mit «Davos Man» beschreiben Politologen die globale Elite, die sich jedes Jahr am WEF trifft. Was versteht man genau unter dieser Bezeichnung?
Den «Davos Man» nach dem Idealbild von Klaus Schwab zeichnet Toleranz sowie Dialogfähigkeit aus. Er zeigt Verantwortung für die Weltgemeinschaft, kämpft gegen Ungleichheit und kümmert sich um den Umweltschutz und andere grosse Fragen. Aber auch wichtig: Neben der Globalisierung ist der «Davos Man» ein wichtiger Verfechter der freien Märkte.
Und ihre persönliche Interpretation?
In Davos sind in diesem Jahr über 3000 Teilnehmer mit jeweils eigenen Interessen. Da gibt es keinen Generalnenner. Der typische Schweizer Mittelständler hat sicher andere Schwerpunkte als ein Konzernchef oder ein Wissenschaftler. Ich habe in Davos alles kennengelernt: Vom gerissenen Geschäftsmann bis zum überzeugten Moralisten.
Ich habe am WEF alles getroffen: Vom gerissenen Geschäftsmann bis zum überzeugten Moralisten.
Was bringt das WEF der Welt und den Menschen?
Man muss festhalten: Die Erwartungen an das WEF sind immer zu hoch. Es ist das Jahrestreffen eines Eliteclubs mit hohem moralischem Anspruch, aber es ist immer noch eine Privatveranstaltung. Das WEF hat kein politisches Mandat, keine Exekutivgewalt. Doch Schwab schürt natürlich die übertriebenen Erwartungen. Der WEF-Leitsatz lautet: «Committed to improving the state of the world», zu Deutsch: «Verpflichtet, die Lage der Welt zu verbessern.» Das sind Erwartungen, die nur enttäuscht werden können.
Sie haben in ihrem Buch beschrieben, dass gerade die Schweizer gegenüber zu grossen «Nummern» und selbstbewusstem Auftreten oft skeptisch sind.
Viele Schweizer haben eine zwiespältige Meinung gegenüber dem WEF und der Person Klaus Schwab. Sie glauben wahrscheinlich, der nehme den Mund etwas zu voll. Und dieser Grossanlass stösst bei den Schweizern auf Skepsis. Vor allem, wenn man sich als Elitegemeinschaft begreift. Deshalb ist es notwendig, zu betonen: Die Schweiz bekommt auch etwas dafür. Gerade ein kleines Land wie die Eidgenossenschaft braucht mehr Freunde als die grossen Länder, und da ist dieses Forum schon eine gute Werbung für das Land und seine demokratischen Prinzipien.
Nicht nur viele Schweizer sind skeptisch gegenüber Eliten. Das Wort gilt in Europa heute vielerorts geradezu als Schimpfwort.
Die Eliten werden heute leichtfertig kritisiert. Umso mehr finde ich das diesjährige Motto treffend: Responsive and responsible Leadership. Das drückt etwas Wichtiges aus. Alle Schichten der Gesellschaft müssen gleichberechtigt miteinander reden. Aber am Schluss braucht es Leute, die unter Einbezug möglichst vieler Interessen Entscheidungen fällen, die eine Gesellschaft voranbringen.
Das WEF ist noch immer eine One-Man-Show.
Klaus Schwab ist der grosse Mann hinter dem WEF. Er ist jedoch bald 79-jährig. Wie steht es um seine Nachfolge?
Das WEF ist tatsächlich noch immer eine One-Man-Show. Schwab entscheidet nahezu alles. Er umgeht die Frage nach einem möglichen Rückzug jeweils mit dem Satz: «Ich fühle mich als Künstler, und ein Künstler kennt keinen Ruhestand.» Meine Einschätzung ist: Schwab will bis zuletzt alle Zügel in der Hand behalten.
Das Gespräch führte Christa Gall.