Lange rätselte die Finanzwelt. Wird sie oder wird sie noch nicht? Alle haben auf die Wende gewartet. Seit neun Jahren hat die US-Notenbank Fed die Zinsen nicht mehr angehoben. Nun hat Fed-Chefin Yellen einen ersten kleinen Schritt gewagt, dem chronisch kranken Patienten ein kleinen Schlauch gezogen.
Wie tickt sie also, die 69-jährige Dame, Herzschrittmacherin der Weltwirtschaft? Auffallend ist laut «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung» ihre zurückhaltende Art: Yellen füllt den Raum nicht aus, dominiert nicht die Diskussionen, kleidet sich unauffällig, ihr Gesicht, würdevoll eingerahmt von silbergrauem Haar. Wenn sie ans Mikrofon tritt, muss sie es oft erst niedriger stellen.
Yellens Kollegen bezeichnen sie gar als scheu. Und: Sie habe sehr wenige Feinde. Selbst von Kritikern wird sie als liebenswürdig beschrieben.
Janet Yellen ist zweifellos eine Frau, die es gut meint mit ihrem Patienten: «Es geht darum zu versuchen, gewöhnlichen Haushalten zu helfen, zurück auf deren Füsse zu stellen, und einen Arbeitsmarkt zu schaffen, in dem Menschen sich sicher fühlen und arbeiten können», sagte sie in einem Interview nach ihrem Amtsantritt.
Mehr Staat, nicht weniger
Kritiker unterstellen ihr, der Lage am Arbeitsmarkt Vorrang vor der Preisniveaustabilität einzuräumen. Tatsächlich verteidigt Yellen vehementer als ihr Vorgänger Bernanke das doppelte Mandat der Fed – die Bank ist neben der Preisstabilität auch für die Vollbeschäftigung verantwortlich. Zögernder als bei Bernanke sind ihre Warnungen vor einer langfristig hohen und steigenden Staatsverschuldung.
Um diese Haltung zu verstehen, hilft ein Blick in die Vergangenheit: Schon bevor sie 1994 zur Notenbankerin wurde, forschte Yellen an der Universität Berkeley mit ihrem Mann, dem Ökonomen und späteren Wirtschaftsnobelpreisträger George Akerlof, zum Thema moderne Beschäftigung und Arbeitslosigkeit. In einer vielbeachteten Studie sprachen sich Yellen und ihr Mann für flächendeckende Lohnsubventionen in Ostdeutschland aus, um die Migration nach Westen zu verhindern und um den Ostdeutschen eine Chance auf Arbeit zu geben.
Ähnlich, also für staatliche Eingriffe, spricht sich Yellen auch in anderen wissenschaftlichen Arbeiten aus. Von dieser Haltung rückt sie auch als oberste Notenbankerin nicht ab, auch wenn sie jetzt die Zinsen minim anhebt. «Das wird die lockerste Verschärfung in der Geschichte der Geldpolitik», spottete etwa Mohamed El-Arin, Chefwirtschaftsberater des Allianz-Konzerns gegenüber «Spiegel». Er erwartet einen schnellen zweiten Zinsschritt. Dann werde Yellen innehalten, um zu beobachten, wie der Patient reagiere.
Klug, umsichtig, analytisch
Von einem «aktivistischen Denkmuster» schrieb gar die «Frankfurter Allgemeine» in einem Artikel über Yellen. Die Fed-Chefin, eine Aktivistin? Yellen ist jedenfalls keine, die unvorsichtig wäre, die unnötig Risiken eingehen würde. Im Gegenteil. Ihre Reden liest sie jeweils sorgfältig vom Blatt ab. Akribisch bereitet sie sich auf jede Besprechung vor. Bei Terminen soll sie jeweils schon Stunden vor dem Abflug zum Flughafen fahren, um ja nicht ihre Maschine zu verpassen.
Auch ist Yellen keine, die die Dinge nicht zu Ende denkt. Berkeley-Professor und Ex-Kollege Andrew Rose sagte etwa im «Spiegel», sie sei eine exzellente Analytikerin. Ein anderer Kollege weiss noch, wie er Yellen einmal mit einer riesigen Einkaufstüte voller Bücher über die Flugzeugindustrie traf. Sie wollte in einem Seminar ein ökonomisches Beispiel für Boeing und Airbus anbringen. «Jeder andere hätte ein oder zwei Artikel darüber gelesen. Aber nicht so Yellen.»
Auch aus Notenbankerkreisen erhält sie Lob: Yellen zeichne sich durch grosse Offenheit aus. Sie wolle Argumente verstehen, auch wenn sie diese nicht teilt. Schon 2006 warnte sie als eine der Ersten vor dem Desaster, das ein Fall der Immobilienpreise mit sich bringen werde. Ihre Vorhersagen erwiesen sich oft als richtig.
Handeln nach dem Motto: Jetzt oder nie
Ob Yellen nun das richtige Rezept gefunden hat, wüsste wohl auch sie selber gerne. Ehrlicherweise muss man sagen, dass der Zustand des Patienten noch nicht so stabil ist, als dass er den Entzug ohne weiteres verkraftet, noch immer stottert die Weltwirtschaft. Nur, Yellen hat keine Wahl mehr. Denn bei noch mehr Chemie würde der Organismus des Patienten massiv geschädigt.
Klar ist, die Herrin des Geldes hat keine leichte Aufgabe. Entzüge sind ein Risiko: Sie können gelingen – oder noch schwerere Rückfälle bewirken.