Das Café Prückel an der Wiener Ringstrasse ist ein traditionsreiches Kaffeehaus mit Jugendstil-Architektur und 50-Jahre-Interieur. Auf der Karte sind unzählige Kaffee-Variationen, in der Vitrine Mehlspeisen, daneben auf einem grossen Tisch Magazine und Zeitungen; säuberlich aufgereiht, österreichische wie internationale.
Ja, es wird immer noch Zeitung gelesen im Wiener Kaffeehaus. Doch auch hier im Café Prückel hantieren die jüngeren Gäste mit dem Smartphone. Deshalb will NZZ.at die traditionsreiche Kaffeehauskultur neu beleben – auf eine moderne Art.
Chefredaktor Michael Fleischhacker erklärt: «Wir laden unsere Abonnenten jede Woche ein, in unsere Redaktion zu kommen, um mit uns und Gästen, die wir einladen, aktuelle Themen diskutieren.» Unter den Gästen waren der Gouverneur der Nationalbank, ein ehemaliger Kanzler und der Direktor der Staatsoper. «Das kommt sehr gut an.»
Wahrscheinlich habe man inzwischen schon 1000 unterschiedliche Menschen zu Gast gehabt. «Das schafft dann Bindung.» NZZ.at ist also mehr als bloss ein Online-Projekt mit Texten, Bildern, Grafiken, mit persönlich gefärbten Kommentaren und Essays, mit Recherchen und Hintergrundberichten, sagt der Salzburger Professor für Medienwissenschaften, Josef Trappel: «Das ist der Versuch, dieses gute alte Kaffeehaus mit den neuen Technologien zu verbinden. Man ruft zusammen im Internet, trifft sich aber dann doch zu Kaffee und Kuchen.»
Provokativer, streitlustiger Chefredaktor
Und dabei debattiert man zum Beispiel über die Steuerreform: «Stellen Sie sich vor, wir hätten diese Milliarden ins Bildungssystem investiert!», sagt ein Teilnehmer. «Dann wäre es noch ineffizienter!», wirft Chefredaktor Fleischhacker ein.
Das Beispiel zeigt, dass Fleischhacker gerne mitdiskutiert und polemisiert. Die Steuerreform beschreibt er als «Schwachsinn, der uns als Konzept verkauft werden soll». Und ein Rauchverbot in Österreich wäre für ihn Ausdruck einer «politischen Blockwartmentalität».
Er kritisiert die amtierende Grosse Koalition aus SPÖ und ÖVP genauso wie die neoliberale Oppositionspartei Neos, die auch schon bereits nach Einfluss und Ämtern schiele, anstatt echte Opposition zu betreiben.
Fleischhacker sagt, er könne ganz einfach nicht anders: «Dieser verfilzte, erstarrte, vereinheitlichte Kontext Österreichs, hat in meinem Fall ein sehr zugespitztes, provokatives, herausforderndes Schreiben kreiert, von dem hoffentlich Diskussionen ausgehen.» Für Medienwissenschaftler Trappel ist diese Haltung Chance und Risiko zugleich: «Die Provokation und die Streitlust eines Michael Fleischhackers sind sicher ein positives Faktum. Andererseits wird genau diese Art von Polemik auch Menschen davon abhalten, NZZ.at zu abonnieren.»
Mindestens 10'000 Online-Abonnenten nötig
Zahlen nennt das Haus NZZ keine; mit geschätzten zwei Millionen Euro Jahresbudget bräuchte es aber mindestens 10'000 Abonnenten, die 14 Euro im Monat für NZZ.at zahlen. Da ist Experte Trappel skeptisch: «Wenn NZZ.at in Österreich scheitert, dann ist diese Art der Inhaltsgestaltung im Internet diskreditiert.» Sollte NZZ.at aber zu einem Erfolg werden, dann will die NZZ das Konzept auch andernorts anwenden und auch Lehren daraus ziehen für den kostenpflichtigen Online-Auftritt der Neuen Zürcher Zeitung in der Schweiz.