Die Europäische Zentralbank (EZB) hat die Kurswende beschlossen und die Zinsen gesenkt. Der Leitzins wird um 0.25 Prozentpunkte nach unten auf 4.25 Prozent gesetzt. Den am Finanzmarkt massgeblichen Einlagensatz, den Banken für das Parken von Geld bei der Zentralbank erhalten, senkte sie von bisher 4.00 Prozent auf 3.75 Prozent. Mit diesem Schritt folgt die EZB den Notenbanken in Kanada, der Schweiz und in Schweden, die die Zinsen im Gegensatz zur US-Notenbank bereits gesenkt haben. Was der Entscheid bedeutet, erklärt SRF-Wirtschaftsredaktor Sven Zaugg.
Warum senkt die EZB gerade jetzt die Zinsen?
Die EZB tut das, weil sich die Teuerung im Euroraum merklich abgeschwächt hat. Der zweistellige Rekord von 10.6 Prozent im Herbst 2022 liegt lange zurück. Heute bewegt sich die Teuerung bei 2.6 Prozent. Damit kommt die EZB ihrem Ziel immer näher: Sie strebt eine Inflationsrate von 2 Prozent an. Generell halten die grosse Mehrheit der Ökonominnen und Ökonomen die heutige Zinssenkung für richtig. Ob weitere Zinssenkungen folgen, hängt davon ab, wie sich die Teuerung entwickelt.
Was heisst das für die europäische Wirtschaft?
Für die Unternehmen sind das gute Nachrichten. Tiefere Zinsen führen zu mehr Kreditvergaben. EU-Unternehmen können sich also günstiger Geld leihen. Das ist gerade für den Bausektor sehr interessant. Diese Branche braucht besonders viel Fremdkapital, um neue Immobilien zu finanzieren. Mit anderen Worten: Die EZB läutet nach einer langen Zeit nun die Zinswende ein. Das stimuliert die Wirtschaft, und das freut die Aktienmärkte. Und wenn die Konjunktur im Euroraum anzieht, profitieren letztlich auch Schweizer Firmen, die ihre Produkte in Deutschland oder Frankreich verkaufen können.
Ist die Inflation im Euroraum damit besiegt?
Nein. Die Inflationsgefahr ist nicht besiegt, weil die Teuerung im Mai von 2.4 Prozent wieder leicht auf 2.6 Prozent gestiegen ist. Vor allem die Inflation im Dienstleistungssektor hält sich hartnäckig. Kommt hinzu: Die Senkung der Zinsen schwächt den Euro. Damit werden Exporte aus der EU – zum Beispiel in die USA – günstiger. Handkehrum verteuern sich die Importe. Da besteht die Gefahr, dass sie – insbesondere Energieträger – die Inflation wieder anheizen könnten.
Wird nach SNB und EZB auch die US-Notenbank Fed die Leitzinsen senken?
Wahrscheinlich nicht. Die Teuerung in den USA hält sich seit Monaten hartnäckig und liegt bei 3.5 Prozent. Grund dafür sind ein sehr guter Arbeitsmarkt in den USA, steigende Löhne und die Milliarden-Subventions-Pakete, die US-Präsident Joe Biden in die US-Wirtschaft pumpt. Dieser Mix trägt dazu bei, dass die Inflation nicht entscheidend sinkt. Würde Fed-Chef Jerome Powell die Zinsen in dieser Situation senken, bestünde die Gefahr, dass die US-Wirtschaft überhitzt.
Warum sind die US-Leitzinsen so wichtig?
Die US-Notenbank Fed ist die mächtigste Notenbank der Welt. Ihre geldpolitischen Entscheidungen haben Einfluss auf das gesamte Finanzsystem und sind auch Richtschnur für andere Zentralbanken. Die Zinspolitik der Fed bewegt auch die immer noch wichtigste Währung der Welt, den US-Dollar. Höhere Zinsen locken mehr Kapital in die USA und stärken ihn in der Regel. Das hat Auswirkungen auf die Rohstoffpreise, die in Dollar abgerechnet werden. Und teure Rohstoffe – dazu gehört auch die Energie – sind eine zentrale Ursache für hohe Inflationsraten. Und dort lauert wahrscheinlich auch die grösste Gefahr für den Euroraum. Eine Gefahr, die dann natürlich auch für die Schweiz besteht.