Kurt Pärli, Professor für soziales Privatrecht, kam bereits in jungen Jahren in Kontakt mit dem Arbeitsrecht: Als er sich 1979 als KV-Lernender in das Berufsbildungsgesetz eingelesen hatte, stellte er fest, dass die Berufsschule keine allgemeinbildenden Freifächer anbietet. Seine Freunde am Gymnasium kamen bereits in den Genuss solcher Fächer. Er engagierte sich im zarten Alter von 16 Jahren für dieses Anliegen. Mit Erfolg: Die Berufsschule führte allgemeinbildende Freifächer ein.
Heute ist Pärli überzeugt: «Ein gutes Arbeitsrecht dient den Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden.» Doch diese Arbeitsrechte mussten für über 100 Jahre erst ihren Weg ins Gesetz finden.
Kein Kündigungsschutz und Kinderarbeit
Die Arbeiterbewegungen vor über 100 Jahren mussten für Anliegen kämpfen, die für Arbeitnehmende in der Schweiz heutzutage selbstverständlich sind – oder zumindest nach Arbeitsrecht sein sollten. «Eine ganz wichtige Forderung der Arbeitnehmenden ist die Begrenzung der Arbeitszeit», sagt Pärli. Slogans der frühen 1. Mai-Kundegebungen waren unter anderen: «8 Stunden Arbeit, 8 Stunden Freizeit und 8 Stunden Schlaf.»
Vor über 100 Jahre gab es noch keinen wirksamen Kündigungsschutz. «Die Vertragsfreiheit war damals wichtig für den Aufbau der Schweiz und einer liberalen Wirtschaft», sagt Pärli. Aber: Arbeitgeber konnten ohne Kündigungsfrist jemanden entlassen.
Ebenfalls waren Schutz bei Schwangerschaft und Krankheit noch nicht gesetzlich gewährleistet. Über die Jahre flossen dann Regelungen ins Gesetz ein. «Dies geschah auch unter anderem wegen der Forderungen der Arbeiterbewegung am 1. Mai», so Pärli.
Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Schweiz in gewissen Kantonen ein – zumindest für diese Zeit – sehr fortschrittliches Arbeitsrecht. Beispielsweise der Kanton Glarus hatte bereits das «Fabrikgesetz». In diesem Gesetz wurden allgemeine Schutzvorschriften und die Limitierung der Kinderarbeit festgehalten.
Arbeit ist keine Ware
Kurt Pärli sagt: «Man muss dem Umstand, dass Arbeit keine Handelsware ist, Rechnung tragen.» Dass ein Arbeitsvertrag kein gewöhnlicher Vertrag ist, dafür setzt sich seit 1919 die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ein.
All diese Errungenschaften sind nicht in Stein gemeisselt. Es werden neue Herausforderungen auf die Unternehmungen und Arbeitnehemden zukommen.
Arbeiterbewegungen wie auch der 1. Mai sind dafür unentbehrlich: «Der 1. Mai ist eine Erfolgsgeschichte.» Aber Kurt Pärli warnt davor, sich darauf auszuruhen: «All diese Errungenschaften sind nicht in Stein gemeisselt. Es werden neue Herausforderungen auf die Unternehmungen und Arbeitnehmenden zukommen.»
In Zukunft ein «Recht auf Offline»?
In der Schweiz gibt es noch kein konkretes Recht darauf, in einem Arbeitskontext zu gewissen Zeiten nicht erreichbar zu sein, erklärt Pärli. Doch im digitalen Zeitalter wird dieses Anliegen immer relevanter. Diese 8-Stunden-Parabel, die schon in der Arbeiterbewegung im 19. und 20. Jahrhundert von Bedeutung war, wird hier wieder wichtiger.
Laut Pärli gab es bereits einige Vorstösse in Bundesbern, «welche aber alle keinen Erfolg verzeichnen konnten». Erste Ansätze finden sind in GAV. Das EU-Parlament hingegen setzt sich heuer intensiv in Kommissionen und Räten mit dieser Thematik auseinander. Und Frankreich ist sogar einen Schritt voraus: Wer in einem Unternehmen mit mehr als 50 Angestellten tätig ist, hat seit 2017 ein «Recht auf Abschalten».