Sibylle Jean-Petit-Matile ist Ärztin – und überzeugt: Wer sich mit dem Tod beschäftigt, lernt vor allem eines – wie man lebt.
Schon als Kind wusste sie, dass sie Ärztin werden wollte. Nach Jahren als Hausärztin und Mutter gründete sie vor über zehn Jahren ein Hospiz. Heute leitet sie die Stiftung Hospiz Zentralschweiz in Luzern, wo schwerkranke Menschen in ihrer letzten Lebensphase begleitet werden.
Ihr Leitsatz: «Menschen begegnen Menschen.» Keine Kittel, keine sterile Distanz – sondern Nähe bis zum letzten Atemzug.
Wir begleiten das Leben.
In dieser Nähe hat sie Erkenntnisse gewonnen, die weit über das Sterben hinausgehen und tief ins Leben wirken. Hier sind sieben Dinge, die sie dabei gelernt hat.
1. Das Leben hört nicht vor dem letzten Atemzug auf
Viele denken, dass das Sterben ein Rückzug ist. Doch im Hospiz wird gelebt – mit Gesprächen, Musik, Erinnerungen. «Wir begleiten das Leben», sagt Sibylle Jean-Petit-Matile. Die letzte Zeit ist nicht leer – sie ist intensiv, bewusst, manchmal überraschend leicht. Wer bis zuletzt lebt, lebt oft am klarsten.
2. Der Tod stellt Fragen, die das Leben klären
Wir feiern lieber Anfänge als Enden. Doch gerade die Endlichkeit bringt uns dazu, das Leben ernst zu nehmen. «Verweigerung, sich mit dem Ende zu beschäftigen, ist auch eine Verweigerung, sich mit dem Leben zu beschäftigen.» Wer den Tod anerkennt, entscheidet bewusster – für sich und andere.
3. Endlichkeit schenkt Klarheit
Wenn Zeit spürbar wird, verändert sich die Perspektive. Viele wissen am Ende genau, was sie noch wollen – und was nicht mehr wichtig ist. «Es ist eine bestimmte Zeit, in der man gestalten darf – und genau das macht sie so intensiv.» Darin steckt eine leise Erinnerung an uns alle: Mach es jetzt. Warte nicht. Sag es heute.
4. Nähe entsteht, wenn wir als Menschen begegnen
Im Hospiz trägt niemand Berufskleidung. Die Mitarbeitenden begegnen den Menschen so, wie man auch Freunden begegnen würde – offen, direkt, persönlich. «Man begegnet einem Menschen», sagt Jean-Petit-Matile. Diese Haltung macht etwas sichtbar, das oft vergessen geht: Wir alle sehnen uns nach echter Verbindung. Nicht nach Funktion.
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Bild 1 von 6. Im neuen Hospiz Zentralschweiz in Luzern können Schwerkranke ihre letzten Tage verbringen. Bildquelle: SRF, Sämi Studer.
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Bild 2 von 6. Auch der grosse Tisch soll ein Platz für Begegnungen und Gespräche sein – nicht nur beim gemeinsamen Essen. Bildquelle: SRF, Sämi Studer.
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Bild 3 von 6. Lichtdurchfluteter Gang im Neubau des Hospiz Zentralschweiz. Blick auf den Innenhof, offene Architektur mit viel Holz und Transparenz. Bildquelle: ZvG.
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Bild 4 von 6. Die Wohnküche ist nicht wie in einem Spital, sondern wie in einem Privathaus eingerichtet. Bildquelle: SRF, Sämi Studer.
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Bild 5 von 6. Der blühende Innenhof des Hospiz Zentralschweiz im Frühling 2025. Ein geschützter Aussenraum für Begegnungen, Gespräche und Ruhe. Bildquelle: ZvG.
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Bild 6 von 6. Einblick in ein Patientenzimmer des Hospiz Zentralschweiz.Persönlich gestaltbar, mit Blick ins Grüne und Raum für Rückzug und Nähe. Bildquelle: ZvG.
5. Beziehungen tragen – nicht nur am Ende
Sterben ist nie nur individuell. Eltern, Kinder, Partner, Freundinnen – sie alle gehen mit. «Man begleitet nicht nur einen Patienten. Man begleitet auch seine Angehörigen.» Das Hospiz ist ein Ort der Begegnung für alle. Und es erinnert daran: Was bleibt, sind Beziehungen – nicht Rollen oder Aufgaben.
6. Vertrauen ist das grösste Geschenk
Wenn Worte fehlen, trägt das Dasein. Die Begegnungen im Hospiz sind unverstellt, direkt – oft genügt das stille Vertrauen. «Wenn Menschen einem Vertrauen schenken – das ist eigentlich das Schönste», sagt Sibylle Jean-Petit-Matile. Diese Art von Verbindung entsteht, wenn alles Unwichtige wegfällt – und zeigt, wie viel in einer ehrlichen Begegnung steckt.
7. Auch wer geht, kann noch etwas geben
Erzählen, trösten, erinnern – viele Sterbende wollen etwas weitergeben.
Ich kann etwas zurückgeben. Ich kann trösten. Ich kann erzählen.
Und sie tun es. «Ich kann etwas zurückgeben. Ich kann trösten. Ich kann erzählen.» Dieses Gleichgewicht von Geben und Gehen schafft Ruhe – und zeigt: Auch am Ende kann man kraftvoll wirken. Das verändert das Bild vom Sterben. Und das vom Leben.
Fazit: Wer das Ende kennt, lebt bewusster
Für viele ist die Arbeit im Hospiz schwer vorstellbar. Für Sibylle Jean-Petit-Matile ist sie ein Geschenk. Weil sie zeigt, worauf es wirklich ankommt: Nähe, Respekt, Würde – und die Erkenntnis, dass der Tod nicht das Gegenteil des Lebens ist. Sondern ein Teil davon.