Wenn der Sohn den Beruf der Mutter erlernt, dann geht es nicht lange und jemand sagt: «Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.» Und automatisch haben wir das Bild vom Apfel, der vom Baum fällt und unweit des Stamms zu liegen kommt, vor dem inneren Auge.
Dieses Bild ist eine Metapher: Der Apfel steht für das Kind, der Stamm für den Vater oder die Mutter und die kurze Distanz dazwischen für den geringen Unterschied zwischen den beiden Generationen.
Erlerntes Verstehen
Es gibt also eine wörtliche Bedeutung und eine übertragene. Das ist ein zentrales Merkmal von Redensarten. Interessant ist: Die Verbindung zwischen der wörtlichen und der übertragenen Bedeutung ist meist nachvollziehbar – sie leuchtet ein.
Aber voraussehbar ist die übertragene Bedeutung nicht: Man muss wissen, dass Apfel und Stamm für Kind und Elternteil stehen. Erst dann versteht man das Sprichwort.
Unübersetzbar
Darum muss die Bedeutung jeder einzelnen Redensart erlernt und im Kopf abgespeichert werden – das können alle bestätigen, die eine Fremdsprache lernen.
Redensarten kann man grundsätzlich auch nicht wörtlich in andere Sprachen übertragen. «I understand only train station» lässt Englischsprachige höchstens verdutzt zurück. Nur auf Deutsch bedeutet «ich verstehe nur Bahnhof» «ich verstehe nichts».
Nadia Zollinger und Markus Gasser streiten über die schönste Sprache der Welt. Easy heftig. Deine Fragen an mundart@srf.ch.
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Weit verbreitete Redensarten
Es gibt allerdings Ausnahmen: «The apple doesn’t fall far from the tree» bedeutet im Englischen dasselbe wie «der Apfel fällt nicht weit vom Stamm». Dieses Sprichwort ist so oder ähnlich in vielen europäischen Sprachen geläufig. Seine Herkunft ist nicht geklärt, aber es muss ziemlich alt sein.
Viele dieser in mehreren Sprachen verbreiteten Redensarten stammen aus antiken Schriften, mittelalterlichen Geschichten oder Renaissancetexten. Die Bibel mit ihren Übersetzungen trug besonders stark zur Verbreitung bei.
Komplexes wird vereinfacht
Oft sind Sprichwörter versprachlichte Lebensweisheiten, die uns helfen, mit der komplexen Welt, in der wir leben, umzugehen.
Sie brechen komplexe Sachverhalte (eine Person verhält sich in einem bestimmten Bereich und in einem gewissen Mass ähnlich wie ihre Mutter oder ihr Vater) auf ein einleuchtendes Bild (dasjenige von Apfel und Stamm) herunter.
Vom Sprichwort zur Plattitüde
Bei einer derartigen Vereinfachung (der Sohn wollte vielleicht ganz einen anderen Beruf erlernen, soll aber dereinst das Geschäft der Mutter übernehmen) ist der Weg vom Sprichwort zur Plattitüde dann allerdings auch nicht mehr weit. Dennoch sind Redensarten das Salz in der Sprachsuppe.
(Un)veränderlich
Was Redensarten von spontanen markigen Sprüchen unterscheidet, ist ihre Formfestigkeit. Oft sind sowohl die Bestandteile als auch ihre Reihenfolge festgelegt: «die Birne fällt nicht weit vom Stamm» wirkt ebenso komisch wie «weit vom Stamm fällt der Apfel nicht».
Aber natürlich kann man mit der Festigkeit von Redensarten auch spielen: Angenommen, ein regelmässiger Gast in der Dorfbeiz hat einen Sohn, der nun ebenfalls oft in dieser Wirtschaft anzutreffen ist. Da bietet es sich natürlich an, zu sagen: «Der Apfel fällt nicht weit vom Stammtisch».
Redensarten erfinden
Mit etwas Fantasie kann man sogar neue Redensarten erfinden. Grundsätzlich reicht es, eine wörtliche Aussage mit einer nachvollziehbaren übertragenen Bedeutung zusammenzubringen.
Beispielsweise könnte man sagen «aus einem Hund kann man keine Katze machen» für «diese Person kann man nicht ändern; jeder Versuch ist zwecklos». Falls nun Andere das auch einleuchtend finden und es selber zu verwenden beginnen, ist eine neue Redensart entstanden.
Genial, unsere Sprache, oder?