Streit, Meinungsverschiedenheiten und eine komplett andere Auffassung der Lebensgestaltung: Die etwa 20-jährige Frau – wir nennen sie Gina – hatte genug von ihren Eltern und deren Erwartungen.
«Ich bin von zu Hause abgehauen und ins Ausland ausgewandert.» Aber auch da fühlte sie sich nicht sicher. «Nach meiner Rückkehr in die Schweiz hatte ich nichts mehr – kein Geld, keine Wohnung.»
Gina landete auf der Strasse, Unterstützung von der Sozialbehörde bekam sie vorerst nicht. «Und das, obschon ich vorher immer gearbeitet und meine Steuern bezahlt habe.» Die junge Frau fand Unterschlupf in der Berner Jugend-Notschlafstelle Pluto und konnte dort ihr Leben neu ordnen. «Das Pluto hat mir in der schwierigsten Zeit meines Lebens Halt gegeben.»
Inzwischen wohnt Gina wieder bei ihren Eltern. «Die Probleme sind zwar nicht weg, aber ich habe einen Job und werde bald in eine eigene Wohnung ziehen.»
Solche und ähnliche Schicksale gehören zum Alltag im Pluto. «Unser Angebot richtet sich an Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 14 und 23 Jahren, die sich in einer Notsituation befinden und ein Bett für die Nacht brauchen», sagt Sozialarbeiterin Christine Blau. «Etwa 40 Prozent davon sind minderjährig.»
Aline Weibel gehört zum Betreuungsteam im Pluto. Für sie gibt es nicht den einen typischen Fall. «Die Hintergründe und Geschichten unserer Nutzenden sind sehr divers», sagt sie. Die Palette reicht von Gewalt im Herkunftssystem über Probleme in der Schule oder dem Lehrbetrieb bis zu Wohnungsverlust und damit verbundener Obdachlosigkeit.
«Wir lassen keine Person hilflos zurück und versuchen, gemeinsam mit den jungen Menschen die Situation anzuschauen und Lösungen zu suchen.» Sei dies in Absprache mit Eltern oder anderen Bezugspersonen, es kommt aber auch vor, dass die Polizei oder die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) involviert werden.
Das einzige Mädchenhaus der Schweiz
Frauenhäuser gibt es in der Schweiz einige. Das Mädchenhaus Zürich aber richtet sich explizit an Jugendliche und junge Frauen zwischen 14 und 20 Jahren. Die meisten davon kommen aus der Region Zürich. «Betroffene, die uns aufsuchen, sind typischerweise etwa 16-jährig», sagt Geschäftsleiterin Maria Mondaca. «Also in einem Alter, in dem bereits eine gewisse Selbstständigkeit vorhanden ist.»
Probleme mit den Eltern, in der Beziehung, der Schule oder am Arbeitsplatz sind jene Themen, welche die jungen Frauen beschäftigen. In den meisten Fällen geht es um psychische Gewalt wie Cyber-Mobbing, um Kontrolle und Verbote durch die Eltern.
Wir helfen den Mädchen und jungen Frauen, neue Zukunftsperspektiven zu erarbeiten.
Was sexuelle Gewalt betrifft, gibt es wohl eine hohe Dunkelziffer, da das Thema sehr schambehaftet ist. Auch Mädchen, die geschlagen wurden, melden sich – allerdings weniger als früher. «Der Grund ist wohl, dass physische Gewalt leichter nachzuweisen ist.»
Wo genau sich das Mädchenhaus befindet, soll nicht bekannt sein, um die Sicherheit jener Personen nicht zu gefährden, die dort Zuflucht suchen. Der Erstkontakt erfolgt deshalb per Telefon, im Anschluss steht – je nach Fall – ein Treffen an, danach möglicherweise die vorübergehende Aufnahme ins Mädchenhaus. Die Aufenthaltsdauer beträgt maximal drei Monate.
«Bei uns bekommen die Frauen professionelle Betreuung, Beschäftigung und schulische Unterstützung», sagt Maria Mondaca. «Wir helfen ihnen, neue Zukunftsperspektiven zu erarbeiten.» Eltern, Schule und Lehrbetrieb werden bei Bedarf entsprechend informiert, in gewissen Fällen sind zudem die Kesb oder die Polizei involviert.
Gruppentherapie für gewaltbetroffene Kinder
Die Beratungsstelle Pinocchio in Zürich ist spezialisiert auf Fragen rund um die psychische Entwicklung von Kindern im Vorschul- und Volksschulalter. Dabei geht es auch ums Thema Gewalt unter Eltern.
«Wenn ein Kind zuschauen muss, wie ein Elternteil verprügelt wird, kann das eine schwere psychische Verletzung auslösen», sagt Michael Frei, Leiter der Beratungsstelle und Psychotherapeut.
Die Folgen können Verunsicherung, Angst, Schlafstörungen oder gar eigene Gewaltanwendung in der Schule oder im Kindergarten sein.
Betroffene Kinder werden im Pinocchio einzeln, aber auch im Projekt «Kindergruppe» betreut. In der Gruppe liegt der Fokus allerdings nicht darauf, über die eigenen Erfahrungen zu sprechen. Spielen, basteln, Zusammensein stehen im Vordergrund. «Es geht eher darum, mögliche Konflikte oder Schwierigkeiten untereinander zu bearbeiten.» Dies mit dem Ziel, das Verhalten in der Gruppe zu verbessern und das Selbstvertrauen der Betroffenen zu stärken.
Gewaltprävention an Schulen
In der Schweiz stirbt alle zwei Wochen eine Person infolge häuslicher Gewalt. Die Mehrheit davon sind Frauen. «Beim Projekt ‹fair-lieben› geht es darum, die Themen häusliche oder geschlechtsspezifische Gewalt zu enttabuisieren», sagt Petra Wigger, Geschäftsleiterin der Fachstelle Jumpps . Denn: Wer daheim Gewalt erlebt, weist ein höheres Risiko auf, auch später Opfer von Gewalt zu werden oder in der eigenen Beziehung oder in der Familie selbst Gewalt auszuüben.
Kinder und Jugendliche sollen wissen, wo sie sich im Notfall melden können.
Das Präventionsangebot «fair-lieben» richtet sich an Lehrkräfte und Schulen in der Deutschschweiz. Es handelt sich dabei um einen halbtägigen Workshop für Jugendliche ab der 5. Klasse. Geleitet wird er von pädagogischen Fachpersonen von Jumpps.
«Im Workshop geht es unter anderem um verschiedene Gewaltformen, um Themen wie Beziehung, Grenzen, Toleranz und Vielfalt.» Zentral sei auch, dass die Jugendlichen wissen, wo sie in Notlagen Hilfe bekommen. «Sei dies innerhalb des Schulhauses oder auch bei Fachstellen in der Region.»