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Abbau beim orangen Riesen So setzte die Migros 500 Millionen in den Sand

Tiefpreis-Schilder und Merci-Aktionen umgarnen Migros-Kundinnen und Kunden im 100-jährigen Jubiläum des orangen Riesen – hinter den Kulissen aber findet der grösste Um- und Abbau der Firmengeschichte statt. Teile der Migros-DNA wie Hotelplan, Mibelle und Fachmärkte werden verkauft, Filialen von MElectronics und SportX heissen darum jetzt Mediamarkt und Ochsner Sport oder Dosenbach.

Das wirtschaftliche Umfeld für die einst so erfolgsverwöhnte Migros ist ungemütlich geworden. Schuld daran: die Konkurrenz von Aldi und Lidl sowie Online-Anbieter und Giganten wie Decathlon und Mediamarkt.

Der rekordtiefe Gewinn der Migros-Gruppe von 2023 aber ist hausgemacht: Hinter dem Mammut-Abschreiber von 500 Millionen Franken stecken auch Verzettelung, Ineffizienz und Missmanagement. An der Bilanzpressekonferenz fand Mario Irminger, neuer Chef des Migros-Genossenschaftsbundes (MGB) klare Worte: «Wir müssen im Handwerk besser werden, das müssen wir seriöser nehmen!»

Was genau ist passiert? Die SRF-Recherche zeigt: 100 Millionen der Mammut-Wertberichtigung gehen allein aufs Konto des Sololaufs eines so genannten «Regionalfürsten».

Eigenmächtiger Regionalfürst

Es geht um das Vorzeigeprojekt «Logistikplattform 2030» der Genossenschaft Aare, das im Herbst 2024 eröffnet wurde. Von Schönbühl aus werden rund 170 Filialen mit frischen, gekühlten Produkten wie Früchten, Gemüse, Milch, Fleisch und Brot beliefert. Gegenüber der Presse wurde der 250-Millionen Bau (Aare-Insider sprechen sogar von 300 Millionen), mit einem Gebäudevolumen von 160’000 Kubikmetern als eine der grössten Plattformen für Frischlogistik schweizweit gefeiert.

Was bisher aber niemand weiss: Die Anlage wurde viel zu gross gebaut. Grund: Der ehemalige Aare-Chef Anton Gäumann habe geklotzt, in der Annahme, dass auch die Genossenschaften Basel und Neuenburg/Fribourg ihre Ware von der Verteilzentrale Aare beziehen würden, sagen ehemalige Kader der Migros Aare. Nur: Die Kollegen wurden erst gefragt, als das Mammut-Projekt schon im Bau war. Und sagten ab.

Sie hätten im Gegenzug ihre eigenen Verteilzentren stilllegen müssen, was sie nicht wollten. «Das ist politisch heikel, weil Arbeitsplätze abgebaut werden müssten», sagt ein ehemaliger Kadermann der Migros Aare.

«Nicht alles ideal gelaufen.»

Warum aber wurden die anderen Genossenschaften nicht vorgängig gefragt? «Wenn man vor dem Bau versucht hätte, eine Einigung zu erzielen, hätten zu viele Leute mitgeredet, und es wäre mühsam geworden», sagt der ehemalige Kadermann der Aare. Auf Anfrage von SRF will der 2021 wegen Interessenskonflikten zurück getretene Genossenschaftschef Gäumann nicht Stellung nehmen.

Der Genossenschaftschef Luzern, Guido Rast, bestätigt den Sachverhalt: «Es ist nicht alles ideal gelaufen, weil gebaut wurde, ohne dass die Genossenschaften ein Commitment gegeben haben».

Laut ehemaligen Kaderangestellten der Aare steht jetzt ein Drittel der Anlage für die gekühlte Kommissionierung leer. Und die ganze Migros-Gruppe mit den zehn Genossenschaften, mit Handelsfirmen wie Denner, der Migros Industrie und der Migros-Bank, muss den Sololauf der Aare ausbaden, in dem sich ihr Gewinn um 100 Millionen reduziert.

Dieses Beispiel ist typisch für das «System Migros»: Die Migros-Welt ist nämlich eine verkehrte Welt, ein umgekehrter Konzern.

Mehrkosten von 200 bis 300 Millionen Franken jährlich

Mehrkosten dieser 11-Spurigkeit? Schätzungsweise 200-300 Millionen jährlich, sagen ehemalige Migros-Kader. Die Migros kommentiert die Zahlen nicht.

Guido Rast ist nicht nur Chef der Genossenschaft Luzern. Er ist auch Verwaltungsratspräsident der neuen Supermarkt AG. Rast sagt: Eine Fusion zu einer Einheitsgenossenschaft, wie sie Coop schon 2001 gemacht hatte, würde Jahre in Anspruch nehmen. Stattdessen hätten sich die Genossenschaften verpflichtet, vermehrt zusammenzuarbeiten.

Diese Migros-Töchter werden verkauft

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Im Sommer 2024 wurden die Fachmärkte MElectronics und SportX verkauft. Mediamarkt und die Dosenbach/Ochsner-Gruppe haben je rund die Hälfte der Läden und das Personal übernommen.

Im Herbst übernahm der Schweizer Fahrradhersteller Thömus die meisten Läden von Bike World und deren Angestellte.

Anfang 2025 wurde bekannt, dass die deutsche OBI-Gruppe alle OBI-Filialen der Migros übernimmt mitsamt Personal. OBI übernimmt auch zwei Do It + Garden-Filialen. Für die restlichen Do It-Filialen und für Micasa werden noch Käufer gesucht.

Kurz vor Weihnachten wurde vermeldet, dass L’Oréal die südkoreanische Tochterfirma der Kosmetikgruppe Mibelle kauft. Deren Marke Dr G. ist das Schmuckstück von Mibelle. Den Rest der Mibelle Gruppe will Migros im ersten Quartal dieses Jahres verkaufen.

In diesem Zeitrahmen will der orange Riese auch verkünden, wer das von Gottlieb Duttweiler gegründete Reiseunternehmen Hotelplan übernimmt.

Bislang seien rund zwei Drittel der angekündigten 1500 Stellen abgebaut worden.

Als Beispiel nennt Rast die Absichtserklärung der Genossenschaft Tessin, bis 2030 ihre Produkte von der Logistik-Zentrale der Genossenschaft Luzern zu beziehen, statt in die Modernisierung der Tessiner Anlage zu investieren. Auch in der Romandie sei eine grosse Verteilzentrale für vier Genossenschaften im Bau. Wie viele Kosten insgesamt eingespart werden sollen, kann VR-Präsident Rast aber nicht sagen.

Ein Lackmustest für die geplante Zusammenarbeit der Genossenschaften wird der Einkauf von Ladeneinrichtungen sein. Ab diesem Jahr werde man bei Um- und Neubauten gemeinsam einkaufen, verspricht Guido Rast. Die Notwendigkeit dafür zeigt das Beispiel der Einkaufswagen. Laut Migros-Insidern gibt es über 20 verschiedene Modelle.

Symbol der Mehrspurigkeit: Verschiedene Migros-Wägeli

Bisher kaufte jede Genossenschaft, was sie wollte. Auch bei den Fleischtheken gäbe es schweizweit «sehr viele Typen» sagt Guido Rast. Die Genossenschaftschefs hätten bisher jährlich rund 50 Millionen für die Erneuerung ihrer Ladeneinrichtungen ausgegeben, sagen ehemalige Migros-Kader. Rund fünf Millionen zu viel. Zehn Prozent der Kosten könnten nämlich eingespart werden, wenn alle gemeinsam einkaufen würden. Guido Rast spricht sogar von einem Einsparpotential beim Ladenbau von bis zu 20 Prozent.

Allerdings gab es bereits 2010 ein gemeinsames Ladenbau-Konzept. Die Regionalfürsten aber hielten sich nicht daran. Warum, Herr Rast, soll das jetzt anders sein? «Weil wir jetzt eine andere Struktur haben, in der wir Abweichungen adressieren». Er spricht von «Umsetzungsloyalität» und «Kulturarbeit». In der Vergangenheit habe man vielleicht zu wenig insistiert, wenn einige Genossenschaften sich nicht ans gemeinsame Konzept gehalten hätten.

Feindseligkeit zwischen MGB und Genossenschaften

Die komplexe Struktur verkomplizierte auch das Geschäft der Fachmärkte, die jetzt verkauft werden. In der Migros spricht man von der «Zweistufigkeit». Der Migros-Genossenschafts-Bund kaufte während rund 15 Jahren die Ware für die Fachmärkte ein, beispielsweise für MElectronics.

Dafür hatte er ein rund 40-köpfiges Team. In einer üblichen Konzernstruktur würden dem MGB alle MElectronics-Filialen unterstehen, und sein MElectronics-Team würde eine einheitliche Strategie fürs Sortiment und den Verkauf durchsetzen.

Bei der Migros war das aber nicht möglich, weil die Läden den autonomen Genossenschaften gehörten. Der MGB verkaufte ihnen die Ware und garantierte sogar eine fixe Marge. Der MGB bezahlte auch den Ausfall, wenn die Genossenschaften nicht alle Ware verkaufen konnten. «Vollkasko-Mentalität», sagen ehemalige MGB-Kader abschätzig. «Der MGB kaufte zu teuer ein», entgegnen Leute aus den Genossenschaften. Ex-Migrosianer sprechen von Misstrauen und Feindseligkeit auf beiden Seiten.

Legende: 2023 machten alle Fachmärkte zusammen 100 Millionen Franken Verlust. Keystone

Zehnfache Komplexität

Zweistufigkeit bedeutet: Jede Genossenschaft hatte wieder ein eigenes Verkaufsteam für jeden Fachmarkt und setzte die vom MGB formulierte Strategie nach eigenem Gutdünken um. Die einen nahmen zum Beispiel defekte Geräte zurück, die anderen nicht. Einige kauften weitere Produkte dazu.

Das ist ineffizient und verursacht Mehrkosten: Vor allem im Elektronikhandel, wo die Margen immer enger wurden, wirkte sich die Zweistufigkeit negativ aus: Migros-Insider sagen, viele MElectronics-Filialen hätten seit mehr als zehn Jahren nicht mehr rentiert. Die Genossenschaften wollten sie aber nicht aus der Hand geben und subventionierten sie quer: Ihre Gewinne schrumpften.

2021 versuchte die Migros den Turnaround mit einer dafür geschaffenen Fachmarkt AG: Sie übernahm den Einkauf vom MGB und schaffte die Vollkasko-Mentalität ab. Aber das Geschäft lief nach wie vor über zwei Stufen – und scheiterte.

2023 machten alle Fachmärkte rund 100 Millionen Verlust; auch wegen der Zweistufigkeit. Guido Rast sagt, vor dem Verkauf habe man alle Varianten durchgerechnet, auch die Aufgabe der Zweistufigkeit. Aber auch sie hätte das Geschäft nicht retten können. Zu spät, entgegnen ehemalige Fachmarkt-Kader. Ihrer Meinung nach hätte das Fachmarkt-Geschäft schon vor zehn Jahren zentralisiert und effizient gemanagt werden sollen. Gleich wie andere einstufige Migros-Handelsfirmen wie Denner oder Migrolino, die erfolgreich sind.

Gescheiterte Ausland-Abenteuer

Zur ineffizienten Struktur und Sololäufen hinzu kommt Missmanagement in Ausland. MGB-CEO Mario Irminger spricht von “Verzettelung” und sucht nach Käufern für die Mibelle-Gruppe mit ihren Töchtern im Ausland. Man wolle sich auf die Geschäftsfelder konzentrieren, wo der orange Riese die nötigen Kompetenzen habe. Irminger: “Wir sind keine Risikokapital-Gesellschaft”. Diesen Eindruck erwecken einige Firmen, die die Migros Industrie seit 2010 im Rahmen ihrer Internationalisierungs-Strategie zusammengekauft hatte.

«Ein bisschen naiv»

Das erste US-Firmenabenteuer wagt die Migros 2014: Für 36 Millionen Franken kauft sie die Schokoladenfabrik Sweetworks in Buffalo und die Kaugummifabrik Oakleaf im nah gelegenen Toronto in Kanada.

Der Plan: Chocolat Frey als damalige Nummer eins im Schweizer Markt auch zum Verkaufserfolg in den USA zu machen. «Ein bisschen naiv», sagt Leanne Khoury, die ehemalige Betriebsleiterin von Sweetworks im Nachhinein. Der Schokoladengeschmack der Amis sei anders.

Pleiten, Pech und Pannen

Kurz nach dem Kauf von Sweetworks springt Hershey als wichtigster Kunde ab. Die Sweetworks-Eigenmarke «Niagara» wird umbenannt in «Niagara by Frey»: Dafür wird Frey-Schokoladenmasse in Blöcken aus der Schweiz importiert und vor Ort verarbeitet.

Die versprochenen Marketinggelder fliessen spärlich, und der Frey-Geschmack kommt nicht an: Laut internen Zahlen, die SRF vorliegen, halbiert sich der Umsatz der zwei Fabriken innert vier Jahren, und es wird kaum noch Gewinn gemacht.

Hinzu kommt: Die meisten Tafeln von Chocolat Frey können gar nicht auf den rund 40 Jahre alten Sweetworks-Maschinen hergestellt werden. Auch sie müssen aus der Schweiz importiert werden. In der Fabrik werden sie nur umgepackt in US-Grössen.

Als mit der Pandemie auch der Verkauf von Süssigkeiten bei Oakleaf einbricht, zieht die Schweizer Zentrale 2020 die Reissleine: Schliessung von Oakleaf und Strategiewechsel für Sweetworks: Kein Verkauf von Chocolat Frey mehr. Betriebsleiterin Leanne Khoury verlässt Sweetworks 2021.

Legende: Im Herbst 2023 wurde Sweetworks geschlossen und 160 Angestellte entlassen. SRF

Unehrlicher Manager, 30 Millionen Verlust

Ihr Nachfolger habe die Fabrik ruiniert, sagt der ehemalige Schichtleiter Mark Hernquist: «Er hatte einen Zweitjob bei Coca Cola und war nicht ehrlich zu den Managern von Migros.» Während er ihnen sagte, die Fabrik laufe gut, hätten sie die Schokolade billiger verkauft, als ihre Herstellung kostete.

Ab 2020 türmten sich bei Sweetworks und Oakleaf gemäss internen Migros-Zahlen rund 30 Millionen an Verlusten auf. Und die Migros-Manager? Die seien ein bis zwei Mal im Jahr nach Buffalo gekommen, «aber niemand hat das grosse Ganze gesehen».

Legende: Der ehemalige Schichtleiter Mark Hernquist wurde nach 18 Jahren bei Sweetworks auf die Strasse gestellt. SRF

Im Herbst 2023 wurde Sweetworks geschlossen und 160 Angestellte auf die Strasse gestellt. Zum Beispiel Mark Hernquist nach 18 Jahren bei Sweetworks: «Es war sehr emotional, wir gingen in eine Bar und haben geweint.» In der Schweiz aber hat niemand davon erfahren. Migros hat das bittere Ende von Sweetworks nicht kommuniziert.

Letzte Chance für Regionalfürsten?

Nach der Verzettelung im letzten Jahrzehnt fokussiert sich die Migros seit 2021 auf die Geschäftsfelder Detailhandel, Gesundheit und Finanzdienstleistungen mit der Migros Bank. Im Supermarktgeschäft wollen die zehn Genossenschaftschefs künftig effizient zusammenarbeiten und Mehrspurigkeiten abbauen: Es ist wohl ihre letzte Chance. Andernfalls werden sie ihre vielen Genossenschaften nicht halten können.

Den ganzen DOK-Film zum Thema gibt es hier:

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Legende: SRF

Karin Bauer (Autorin), Dominique Marcel Iten (Redaktion), Robert Salzer (Frontend-Entwicklung), Marc Heer (Design)

SRF 4 News, 24.1.2025, 7:30 Uhr ; 

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