Jeden Tag stehen etwa 300 Menschen an der Zürcher Langstrasse Schlange. Der Grund: Sie wollen etwas essen.
Klingt absurd, doch seit der Coronapandemie ist diese Tatsache für Schwester Ariane Stocklin und ihr Team eine traurige Realität. «In den letzten Monaten hat die Armut extrem zugenommen», sagt Schwester Ariane. «Wir bekommen viele Mails, in denen die Leute schreiben: Ich kann mir das Essen nicht mehr leisten.»
Darum hat sie zusammen mit Pfarrer Karl Wolf vor einigen Jahren das Primero, ein Café für Obdachlose und Bedürftige, eröffnet. Es ist ein Ort, an dem Bedürftige eine warme Mahlzeit bekommen und einfach verweilen dürfen. Ein Ort, der in dieser Zeit bitter nötig ist.
Die Situation von armen Menschen in der Schweiz hat sich in den vergangenen Jahren verschärft. Insgesamt 1.25 Millionen Menschen leben in unserem Land in Armut oder sind armutsgefährdet. Das bedeutet, sie haben ein deutlich tieferes Einkommen zur Verfügung als die Gesamtbevölkerung.
Passiert etwas Unvorhersehbares, sind es eben diese Menschen, die als Erstes auf Hilfe angewiesen sind. Wie sieht also der Alltag von Menschen aus, die in unserer reichen Schweiz jeden Rappen umdrehen müssen?
Durch die Maschen gefallen
Dass man trotz eines guten Lohns schnell um seine Existenz kämpfen muss, zeigt der Fall von Alexandra Odermatt aus Murgenthal.
Die ehemalige Rettungssanitäterin verdiente einst fast 7000 Franken und lebte ein «Luxusleben», wie sie selbst sagt. Doch vor viereinhalb Jahren dann der Schock: Odermatt verletzte sich während eines Arbeitseinsatzes schwer am Rücken.
Meine Motivation ist, dass ich aus dieser Situation wieder herauskomme.
Zeitweise war sie deswegen teilweise gelähmt. Drei Rückenoperationen später findet sie sich ohne Job, dafür mit 80’000 Franken Schulden wieder.
«Als ich das erste Mal hierherkam, fühlte ich mich minderwertig», sagt Odermatt, während sie im Betreibungsamt steht. «Weil mir etwas passiert ist, das ich nicht selbst steuern konnte.»
Bei ihrem ersten Schritt aufs Betreibungsamt habe sie alle Dokumente offenlegen müssen. «Ich musste damals wirklich weinen», sagt Odermatt.
Mittlerweile gehört der Gang zum Betreibungsamt zu ihrem Alltag dazu. «Meine Motivation ist, dass ich aus dieser Situation wieder herauskomme. Aber ja, es ist eine langweilige Sache.»
Die Sache mit dem Geld
Bereits aus seiner Krankheit herausgekämpft hat sich der Rentner René Burger aus Basel. Nach einem Herzinfarkt musste der ehemalige Bauberater seine Selbstständigkeit aufgeben und rutschte in hohe Schulden.
Mittlerweile sind so viele Leute darauf angewiesen, Schnäppchen machen zu können.
Zuflucht fand er im Alkohol. Am Höhepunkt seiner Sucht trank er trotz knappem Budget schon nach dem Aufstehen eine Flasche Wein.
Seit fünf Jahren ist der 64-Jährige nun trockener Alkoholiker. Doch die Schulden sind geblieben. «Ich werde nie mehr herauskommen», sagt Burger. Er ist frühpensioniert und bekommt eine Minirente, die es ihm erlaubt, 15 Franken pro Tag auszugeben.
«DOK» begleitet Burger beim Einkaufen. Er weiss: Nicht jedes Schnäppchen ist gleich gut. «Das ein oder andere Fleisch wurde aufgetaut. Das heisst, ich kann das nicht mehr einfrieren.» Doch Burger hat Glück: Das Schweinsnierstück, das er im Laden gefunden hat, ist frisch – und 50 Prozent reduziert.
«Mittlerweile sind so viele Leute darauf angewiesen, Schnäppchen machen zu können, dass es schon fast Glückssache ist, sowas zu finden.»
Freiwillig auf der Strasse
Für Moritz, der seinen richtigen Namen nicht nennen will, sind 15 Franken pro Tag bereits Luxus. Er lebt auf den Zürcher Strassen von gut 100 Franken im Monat. Freiwillig, wie er selbst beteuert. Denn eigentlich bekommt er eine Rente von 1830 Franken ausbezahlt. Er verzichtet auf eine Wohnung, weil er zuerst seine Schulden abzahlen will.
Jeden Tag räumt Moritz die Passage hinter dem 25-Hours-Hotel an der Langstrasse auf. Dem Ort also, an dem Schwester Ariane und ihr Team warme Mahlzeiten an Bedürftige verteilen.
Moritz gehört praktisch zum Team von Schwester Ariane. Sein Gesicht will Moritz nicht zeigen. Zu gross ist seine Angst vor Anfeindungen und Mobbing.
Doch er gibt gerne Auskunft: Seit drei Jahren schläft er draussen, erzählt Moritz. Der Winter, sagt er, während er Zigarettenstummel aufliest, sei gar nicht so kalt, wie alle meinen. «Das Zwiebelprinzip hält mich warm.»
Moritz trinkt nicht, raucht nicht, konsumiert keine Drogen. Und er hat einen strukturierten Tagesablauf. «Wichtig ist, dass du als obdachlose Person nicht aufhörst zu träumen», sagt Moritz.
Und sein Traum ist klar: Star-Trek schauen, mit einer so «geilen» Sound-Anlage, dass es ihm die Haare zu Berge stehen lässt. Vielleicht wird dieser bald wahr. Denn Moritz will seine Situation ändern. «Etwa im Mai werde ich anfangen, eine Wohnung zu suchen», erklärt er.
Zurück im hektischen Familienalltag
Auch die Familie Bärtschi/Strahm aus Huttwil hat mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Vater Christian Strahm rutschte vor gut einem Jahr in ein Burn-out.
Monatelang besuchte er eine ambulante Tagesklinik. Während dieser Zeit musste seine Frau Alina Bärtschi sich alleine um die beiden Söhne Jonas und Lionel kümmern. Nun ist Christian Strahm wieder zu Hause und muss sich in den hektischen Familienalltag einfinden.
Dabei machen ihm seine Depressionen immer wieder zu schaffen. Sechs verschiedene Pillen muss er täglich nehmen, um funktionieren zu können: gegen Typ-2-Diabetes, Blutdruck, Depressionen, dazu einen Magenschoner. «Heute ist eher ein schlechter Tag», sagt Strahm, nachdem die Kinder gegangen sind. «Ich bin ziemlich angespannt.»
Doch es gibt auch Lichtblicke. Christian Strahm sagt, er sei wieder zu 20 Prozent arbeitsfähig. Mit diesem Pensum hat er bereits eine Firma gegründet und erste Arbeitsversuche gemacht.
Er ist im Bereich der Verkehrsregelung tätig, dort also, wo er auch vor seinem Burn-out arbeitete. «Es ist eine kleine Goldgrube», sagt er, während er in seinem Büro sitzt und Arbeitsverträge ausstellt.
Ein paar Monate später hat Strahm bereits erste Aufträge. «Wir haben die finanzielle Unabhängigkeit der Firma erreicht», sagt er, als wir ihn bei einem Einsatz begleiten. Im ersten Monat ist gemäss Strahm ein Umsatz von 24’000 Franken gelaufen.
Was nach viel klingt, schlägt sich finanziell kaum nieder. Strahm kann sich nur einen Lohn von knapp 500 Franken auszahlen. Aber er bleibt optimistisch: «Ich muss zwar Ende Monat immer noch schauen, wie ich meine Rechnungen bezahle, aber im Endeffekt funktioniert es.»
Seine grosse Hoffnung: nach dem Winter «hängts ine».
Plötzlich kein Krankentaggeld mehr
Und vielleicht wäre es auch so gekommen. Hätte der Krankenversicherer, der Christian Strahm das Krankentaggeld auszahlt, ihm nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Der Versicherer hat bemerkt, dass Strahm eine Firma gegründet hat und arbeitet. Und liess ihn daraufhin von einem Privatdetektiv überwachen. Strahm habe seine Arbeitsversuche nicht gemeldet. Und somit unrechtmässig Geld bezogen. Die Konsequenz: Per Ende Jahr wird kein Krankentaggeld mehr ausbezahlt. Für das Weihnachtsessen bleiben nur Ravioli aus der Dose.
In Zürich hingegen wird Weihnachten ausgiebig gefeiert. An Heiligabend gibt es auf der Gasse zahlreiche Angebote für Bedürftige.
Jeder, der an Heiligabend ins Primero – ins Café für Obdachlose und Bedürftige – gekommen ist, bekommt ein verpacktes Geschenk. In jedem Paket befindet sich ein Set mit Hygiene-Artikeln, jeweils sortiert nach Mann und Frau. Während Schwester Ariane und Pfarrer Karl die Päckchen verteilen, stimmen die Anwesenden zusammen ein Lied an.