Vian Tobal lernt früh, dass das Leben kostet. In der Primarschule ist sie die Einzige, die kein Instrument spielt, nicht in die Skiferien geht. Als Vian ihre Mutter fragt, ob sie ihr ein Spielzeug kaufe, meint die Mutter, sie hätten nicht mal Geld für ein Trambillett.
Wir lebten am Existenzminimum.
Vians Familie flüchtet 2009 aus Syrien in die Schweiz. Das Asylverfahren dauerte damals noch drei Jahre. Während des Verfahrens ist es den Eltern verboten zu arbeiten. Die Familie bekommt Sozialhilfe.
Bald aber beginnt der Vater in einer Pizzeria zu arbeiten. Im Stundenlohn und ohne Arbeitsbewilligung. «Sein Chef hat das ausgenutzt und ihm einen Hungerlohn bezahlt. Wir lebten am absoluten Existenzminimum. Das Essen bezogen wir von der Tafel», so Vian.
Ein Moment, der alles ändert
Zum Znüni nimmt Vian immer wieder Pizza mit, die der Vater mit nach Hause bringt. Ihrer Lehrerin fällt das auf. Sie lädt zum Elterngespräch: Pizza sei kein gesundes Znüni und nicht mehr erlaubt. «Mir war das so unangenehm. Meine Lehrerin konnte ja nicht wissen, dass unser Kühlschrank häufig leer war.»
Es ist der Moment als Vian beschliesst, selber Geld zu verdienen. Sie ist 13 Jahre alt.
Sie hilft einer älteren Dame im Haushalt, bekommt 20 Franken pro Woche. Damit kauft Vian das Znüni für sich und ihren Bruder, oder mal ein Spielzeug. Den Eltern sagt sie, sie hätte das Geld von der Schule oder einer Stiftung bekommen.
Und die Eltern glaubten das? «Ich hatte schnell einen Wissensvorsprung. Meine Eltern konnten jahrelang kein Deutsch, kannten das System in der Schweiz nicht.»
Ich war eigentlich noch ein Kind, hatte aber den Stress einer Erwachsenen.
Vian dagegen rutscht in die Erwachsenenrolle. Daheim übernimmt sie bald die ganze Administration. «Ich hatte schnell das Gefühl, dass ich für meine Eltern zuständig bin. Ich musste lernen, was eine AHV-Nummer ist oder wie man die Steuererklärung ausfüllt.»
Rückblickend erzählt Vian, dass das eine totale Überforderung gewesen sei. «Ich war eigentlich noch ein Kind, hatte aber den Stress einer Erwachsenen.»
Gleichzeitig will sie ihren Eltern helfen. «Da war eine gewisse Erwartungshaltung: Sie haben für mich das Land, den Kontinent gewechselt, damit es mir einmal besser geht. Aber als Kind versteht man das nicht.»
Die Situation zu Hause ist angespannt. «Ich war häufig einfach wütend auf meine Eltern. Armut bedeutet Existenzangst und puren Stress.»
Als würde ich im Ozean schwimmen und versuchen, nicht zu ertrinken.
Vians Eltern mussten damals beide die Schule nach wenigen Jahren abbrechen, um zu arbeiten und ihre Familien zu unterstützen. Sie kannten es also nicht anders. Vian betont aber, das habe nichts mit der Herkunft an sich zu tun. «Es ist schlicht wirtschaftliche Notwendigkeit.»
Über Wasser bleiben: ein Balanceakt
Vian beschreibt ihr Grundgefühl in der Jugend mit einem Bild: «Als würde ich im Ozean schwimmen und versuchen, nicht zu ertrinken. Aber nicht nur ich, sondern meine ganze Familie. Ich versuche, für sie zu schwimmen.»
Zu der finanziellen Lage kommen gesundheitliche Probleme. Vian hat eine beidseitige Hüftdysplasie, eine Fehlbildung des Hüftgelenks, und benötigt mehrere Operationen.
Paradoxerweise freute sie sich – trotz der Schmerzen – jeweils auf die Zeit im Spital. «Ich konnte mich ausruhen und meine Eltern durften einfach Eltern sein und sich um mich kümmern.»
Vians Eltern arbeiten jahrelang in schlecht bezahlten Hilfsjobs: in der Reinigung, Backstube oder Wäscherei. Vian versucht also weiterhin Geld mitzuverdienen. Sie ist nun 15 Jahre alt.
Sie hilft im Tierheim aus, sammelt Unterschriften für Referenden. «Immer wenn ich 200 Franken angespart hatte, gab ich das Geld meinen Eltern.» Oder sie kauft Zugtickets für Ausflüge und Eintritte in die Badi für die ganze Familie.
700 Franken für eine Schulreise – «Ich war geschockt»
Vian ist gut in der Schule und ehrgeizig. Sie will es unbedingt ans Gymnasium schaffen, auch ihre Eltern machen Druck.
Mit all den Belastungen fällt es ihr aber zunehmend schwer, ihren Schnitt zu halten. «Ich hatte damals einen Freund aus gutem Haus. Dieser bot mir Ritalin an. Das half.» Vian lernt nachts. «In der Schule hatte ich bald den Ruf einer Eule.» Die Ritalingeschichte fliegt auf, aber Vian schafft den Sprung ans Gymnasium.
Die obligatorische Schule ist grundsätzlich gratis. Am Gymnasium kommen aber andere Kosten auf Vian zu. «Am ersten Tag hat die Lehrerin gesagt, dass unsere Bildungsreise 700 Franken kostet. Ich war total geschockt.» Während die Lehrerin spricht, kann Vian nur daran denken, wie sie dieses Geld zusammenbekommen soll.
Dazu kommen Kosten für Bücher und Laptop. Vian wendet sich ans kantonale Amt für Ausbildungsbeiträge. Ein aufwendiger Prozess: Sie muss eine ganze Reihe an Dokumenten einreichen, um zu beweisen, dass die Familie kein Geld hat.
Der Gang zum Bancomat
Nach vier Monaten bekommt sie einen Unterstützungsbeitrag. Der ist aber nur punktuell und Vian hat noch Schulden von den vielen Spitalaufenthalten.
Also beginnt sie, bei Burger King zu arbeiten. Vian ist jetzt 18 Jahre alt. Bald arbeitet sie praktisch jeden Tag nach der Schule, auch am Wochenende.
An ihren ersten Lohn erinnert sie sich gut: «Ich stand vor dem Bankautomaten und sah meinen Kontostand. 3000 Franken.» Wie ein Drogenrausch hätte es sich angefühlt. Vian kauft sich Kopfhörer. Mit dem Rest des Geldes übernimmt sie die Krankenkassenprämien der Familie.
«Doppelschichten» als Jugendliche
In der Schweiz arbeitet jeder fünfte Jugendliche neben der Schule im Durchschnitt 15 Stunden pro Woche, Lehrlinge sind aus der Statistik ausgenommen. Es gibt aber keine Zahlen dazu, wie viele Jugendliche neben der Schule arbeiten, um ihre Eltern finanziell zu unterstützen. So wie Vian.
Yann Bochsler ist Armutsforscher an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er vermutet, dass das häufig vorkomme: «In der Schweiz gilt man ab 15 als potenziell erwerbstätig. Wir wissen, dass Jugendliche aus armutsbetroffenen Familien generell viel Verantwortung übernehmen.» Man könne also davon ausgehen, dass viele von ihnen auch finanzielle Verantwortung tragen.
Wenn an der Kasse wenig lief, habe ich Karteikärtchen gelernt.
So wie Vian. Im Gymnasium leistet sie praktisch Doppelschichten: Schule bis 17 Uhr. Danach die Schicht bei Burger King, bis das Restaurant schliesst.
«Die Bücher, die ich für die Schule lesen musste, habe ich mir als Hörbücher heruntergeladen. Wenn an der Kasse wenig lief, habe ich Karteikärtchen gelernt.» So hält sich Vian in der Schule über Wasser.
«Der Stoff war eigentlich nicht das Problem.» Die Erschöpfung schon. Eineinhalb Jahre hält sie durch, aber ihre Noten werden schlechter und schlechter, Vian müder und müder. Manchmal schläft sie im Unterricht ein. Sie fehlt häufig wegen Krankheit.
Irgendwann wird alles zu viel
Dann steht ein Chemietest an. Vian weiss, dass diese Note entscheidend ist. Also fragt sie ihre Lehrerin, ob es möglich sei, den Test, der für 14 Uhr geplant ist, erst um 17 Uhr, also nach der Schule, schreiben zu können – sie sei völlig erschöpft. «Die Lehrerin meinte, das sei grundsätzlich möglich. Aber sie fahre ihren Laptop um 16:30 Uhr runter und danach habe sie wirklich keine Lust mehr, diesen wieder hochzufahren.»
Vian sagt, sie verstehe, dass die Lehrerin ihre Bitte abgelehnt habe. «Aber diese Bemerkung war eine zu viel.»
Vian geht wortlos. Sie wendet sich ans Rektorat und bittet darum, das Gymnasium abzubrechen. Sie zieht die Reissleine – und holt sich psychologische Hilfe. Danach arbeitet sie noch drei Monate weiter bei Burger King. Nach einer Reise entscheidet sie, eine Banklehre zu beginnen.
Unsere finanzielle Situation bleibt knapp. Aber heute kommen wir als Familie über die Runden.
Mit 21 ist sie nun im ersten Lehrjahr. Sie wohnt noch bei ihren Eltern. Mit ihrem ersten Lehrlingslohn lädt Vian die ganze Familie nach Portugal in die Ferien ein. Ihre Eltern hätten es auch verdient, sich mal auszuruhen, einfach mal zu geniessen.
Dass Vian ihren Eltern diese Ferien ermöglichen konnte, sei für sie pure Lebensfreude. Langsam bekommt Vian wieder Boden unter den Füssen, Luft zum Atmen.
Meine Geschichte zeigt, dass man es irgendwie schaffen kann. Aber das gelingt nur wenigen.
«Unsere finanzielle Situation bleibt knapp. Aber heute kommen wir als Familie über die Runden.» Sie könnten leben, nicht nur überleben.
Trotzdem: ein so «harmonisches» Ende wird Vian und dem Thema Armut nicht gerecht.
«Ja, meine Geschichte zeigt, dass man es irgendwie schaffen kann. Aber das gelingt nur wenigen. So viel Potenzial von Jugendlichen geht einfach verloren. Weil sie überarbeitet sind, weil sie psychisch an der Armut kaputtgehen.»
Vian wünscht sich, dass besser hingeschaut wird. «Es kann einfach nicht sein, dass Jugendliche aus finanziell schwächeren Haushalten so viel tragen müssen.»