Milena Frühauf klettert bei strömendem Regen routiniert auf einen tonnenschweren Muldenkipper. Sie tut das mit einer Selbstverständlichkeit, die verblüfft. Nur wenige Frauen arbeiten auf dem Bau, knapp zwölf Prozent.
«Kannst du das?», wird Milena regelmässig gefragt, wenn sie anderen erzählt, dass sie eine Lehre als Strassenbauerin macht. Milena nimmt’s locker, denn sie hat sich die Berufswahl gut überlegt und sich gegen ihr skeptisches Umfeld durchgesetzt.
Die Büroarbeit wäre für Milena zu langweilig: «Auf der Baustelle läuft immer etwas. Ich sage nicht, dass im Büro nichts läuft, aber für mich läuft dort nichts.»
Nun ist sie im zweiten Lehrjahr und scheut weder die Arbeit noch den Dreck. «Ich kann ja duschen am Abend», sagt sie mit einem verschmitzten Lächeln auf dem Gesicht und schaufelt im Graben weiter.
Bauberufe haben ein schlechtes Image
Eine Frau, die auf dem Bau arbeitet, irritiert doppelt. Denn Bauberufe haben allgemein ein schlechtes Image und stehen auf der Liste der Traumberufe selten oben. Weder bei Jugendlichen noch bei Eltern.
«Ich fiel aus allen Wolken», sagt Milenas Mutter Annie Burkart. Milena hatte eine Lehre als Augenoptikerin angefangen, merkte aber bald, dass sie im Freien arbeiten will. Sie brach die Lehre ab, googelte «Berufe im Freien» und organisierte sich eine Schnupperlehre als Strassenbauerin.
Die Mutter war geschockt. Annie Burkart ist Schneiderin und gibt Nähkurse. Sie machte sich Sorgen, welchem rauen Umgangston ihre Tochter ausgesetzt sein würde.
Dem Vater ging es nicht anders. «Meine Tochter ist klein und zierlich. Mit Schaufel und Pickel konnte ich sie mir nicht vorstellen», sagt Beat Frühauf. Es sei eine Mischung aus Vorurteilen gewesen, die er der männlich dominierten Branche gegenüber gehabt habe. «Wir mussten das Bild aber revidieren.»
Beat Frühauf ist Betriebsökonom und leitet die Schweizer Niederlassung einer internationalen Investmentberatungsfirma. Wenn in seinem beruflichen Umfeld über die Ausbildung der eigenen Kinder gesprochen wird, löse der Beruf seiner Tochter stets Erstaunen aus.
Er spüre, dass Bauberufe wenig Prestige haben, «aber das ist nicht entscheidend. Es geht darum, dass sie glücklich ist.»
Für ihren Arbeitgeber Cellere ist Milena ein doppelter Glücksfall: Sie macht eine Lehre und sie ist eine Frau. In den nächsten zehn Jahren wird eine ganze Generation von Bauarbeitskräften in Pension gehen, sagt Reto Bischofsberger, Regionalleiter Cellere Bau AG. Das macht nicht nur ihm Sorgen, sondern der gesamten Branche.
Frauen werden als Fachkräfte interessant
Lise Hofmann ist Baumaschinenführerin bei Witschi in Langenthal. Die Firma beschäftigt 130 Angestellte, nur drei Frauen arbeiten auf der Baustelle, eine davon ist Lise.
Chef Bendicht Witschi hätte gerne mehr Frauen in seinem Betrieb. «Ich bin überzeugt, dass mixed teams erfolgreicher sind, aber davon können wir in unserer Branche noch nicht reden», sagt Bendicht Witschi. Die Firma investiert viel in die Suche nach Personal und hat dafür sogar eine neue Stelle geschaffen.
Lise ist gelernte Schreinerin, es zog sie jedoch auf den Bau, wo sie als Handlangerin begann und heute Teamleiterin ist. Die Anerkennung als Frau musste sich die 38-Jährige erarbeiten.
«Ich habe die Zementsäcke immer selbst getragen und das muss mir heute noch keiner machen. Als sie gemerkt haben, die kann auch was, war es kein Thema.» Lise arbeitet gerne mit ihren Kollegen zusammen. Sie kennt aber auch dumme Sprüche und Belästigungen. «Das gab es, vor allem, als ich jünger war. Da muss man sich wehren.»
Wenn Lise sich umzieht, geht sie in die Baracke, wenn keine Männer drin sind. «Und sonst ist es auch egal – man sieht nicht mehr als im Freibad.»
Vor einem Jahr haben Lise und ihre Frau eine Tochter bekommen. Das Paar wünscht sich ein zweites Kind. Dann möchte Lise ihr Arbeitspensum reduzieren. Ihr Chef ist dafür offen, er hat ihr das bereits bei der Geburt von Olivia angeboten. Damals kam es für Lise noch nicht infrage.
Neue Arbeitszeitmodelle gefragt
Das Bedürfnis nach Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ist im Baugewerbe angekommen. Der Verband des Infrastrukturbaus, Infra Suisse, hat einen Leitfaden dazu erarbeitet und das Thema zum strategischen Schwerpunkt erklärt.
Infra-Suisse-Geschäftsführer Adrian Dinkelmann hofft, dass unter anderem deutlich mehr Teilzeitstellen ausgeschrieben werden. Der Ball liegt bei den Unternehmen.
Milena schliesst in einem Jahr die Lehre ab. Der Mindestlohn für Strassenbauerinnen und Strassenbauer EFZ liegt bei 5800 Franken, kann jedoch rasch auf 6000 Franken und mehr steigen, je nach Region. Milena will sich weiterbilden. Zur Polierin und Bauführerin.
Lise hat Feierabend, sie isst mit Töchterchen Olivia Milchreis mit Apfelmus. Und wenn Olivia einmal auf dem Bau arbeiten möchte? Lise sucht nach Worten. «Der Beruf ist toll, ich mache es sehr gerne. Man kann über eine Strasse fahren und sagen, die habe ich gebaut. Aber es ist hart. Es braucht Willen.»
Milena hat auch Feierabend und erzählt ihrer Mutter vom Tag auf der Baustelle – für sie das Normalste auf der Welt. «Die Gesellschaft hat immer noch zu viele Vorurteile. Wenn die nicht wären, wäre es auch nicht so ein Thema, wenn eine Frau auf der Baustelle arbeiten will.»