Das Grab von Wladislaw ist mit blauen und gelben Steinchen in den Farben der ukrainischen Flagge gehalten. Andrij, eineinhalb Jahre alt, beugt sich nach vorn und nimmt ein blaues Steinchen vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger, um es kurz darauf geräuschvoll in die steinerne Vase neben dem Grab kullern zu lassen.
Seine Mutter, Katerina, erzählt: «Als er noch ganz klein war, habe ich ihn nicht mit ans Grab genommen. Ich habe befürchtet, es könnte heissen, kleine Kinder dürften nicht mit auf den Friedhof kommen.»
Während Katerina von ihrem getöteten Ehemann spricht, verschwindet Andrij mit noch leicht tapsigem Schritt hinter der nächstgelegenen Grabreihe. Seine Mutter rennt ihm hinterher: «Ich hoffe, Wladik ist nicht beleidigt, dass ich nicht mit ihm spreche, wenn ich mit Andrjuschka hier bin. Ich denke, er sieht uns von oben und versteht alles.»
Flucht während der Schwangerschaft
Als Andrij im September 2022 zur Welt kam, war sein Vater, Wladislaw Ukrainez, bereits ein halbes Jahr tot. Leutnant Ukrainez wurde am allerersten Tag des russischen Angriffskrieges in der Südukraine getötet. Seinen Vater wird Andrij ein Leben lang nur auf dem Friedhof besuchen können.
Andrij küsst das Porträtfoto seines Vaters auf dem Grabstein zum Abschied. «Papa! Das ist Papa!», sagt seine Mutter zu ihm. Der Vater von Andrij ist in seiner Heimat, der ukrainischen Kleinstadt Chmilnyk, im Westen des Landes beerdigt. Hierher ist Katerina im dritten Monat schwanger geflüchtet.
Die Ortschaft im Süden der Ukraine, in der Katerina aufgewachsen ist, wird bis heute von Russland besetzt. Sie wohnt seit April 2022 vis-à-vis von ihren Schwiegereltern.
Trauer und Kinderbetreuung
Katerina versucht den Alltag als alleinerziehende Mutter zu bewältigen und gleichzeitig Zeit zu finden, um zu trauern. Manchmal wird es Katerina zu viel: «Weil ich jeden Tag 24/7 mit meinem Sohn bin und nur ich ihn schlafen legen kann, weil ich ihn noch stille, habe ich manchmal keine Kraft mehr. Dann gehe ich kurz raus aus dem Zimmer. Ich schliesse mich im Badezimmer ein, weine kurz und komme zurück. Ich bin sehr erschöpft.»
Katerina macht sich Sorgen um die Zukunft von Andrij: «Ich habe den Moment vor Augen, wie mein Sohn vom Kindergarten nach Hause kommen wird und er mich fragt: ‹Warum haben alle Kinder einen Vater und nur ich nicht?› Deswegen habe ich beschlossen, ihm immer zu sagen, dass er einen Vater hat. Er hat einen Vater und dieser ist ein Held.»
Für seinen Einsatz wurde Wladislaw posthum mit dem Orden «Held der Ukraine» ausgezeichnet. Katerina nahm an seiner Stelle an der Zeremonie teil. Das Schicksal von Andrij, den Vater im Krieg verloren zu haben, teilen tausende andere Kinder in der Ukraine. Wie viele es genau sind, weiss niemand.
Allgegenwärtiger Tod
Beerdigungen wurden Alltag für alle Menschen in der Ukraine, deren Verwandte, Bekannte und Freunde an der Front kämpfen. «Ich habe keine Freunde mehr. Alle meine Freunde haben in der Armee gedient und alle sind leider tot», erzählt der 21-jährige Soldat mit dem Kampfnamen «Grobsja», während er mit seiner Freundin Natalija am Ufer des Dnipro entlangspaziert.
Aufgrund der ständigen Gefahr möchten die beiden vorsorgen und Sperma von Grobsja einfrieren lassen: «Du weisst nicht, was morgen passieren wird. Dies hat uns dazu bewogen, damit wir auch in Zukunft auf die eine oder andere Weise zusammen sein können. Gott möge uns davor bewahren!»
Kompromiss für die Zukunft
Dreimal hat Grobsja schon grosses Glück gehabt, als er an der Front schwer verwundet worden ist. Während eines kurzen Aufenthaltes zur Rehabilitation in der ukrainischen Hauptstadt Kiew lassen er und Natalija sich in einem Zentrum für Reproduktionsmedizin beraten.
Seine Freundin Natalija hätte gerne jetzt schon Kinder, aber für Grobsja ist es nicht der richtige Zeitpunkt: «Ich möchte nicht ein Kind machen und dann zurück an die Front. Ich denke nicht, dass das ein vollwertiges Familienleben ist.» Die Nachfrage, das eigene Sperma einfrieren zu lassen, ist in der Ukraine seit Kriegsbeginn stark gestiegen.
Unplanbarkeit des Krieges
Wiktorija und Serhij planten schon vor Ausbruch des Angriffskrieges ein zweites Kind zu bekommen. Der Krieg brachte jedoch die Pläne der Familie durcheinander. Als Militärangehörige waren sie beide mit Ausbruch des Grossangriffes ununterbrochen im Einsatz.
Ihren gemeinsamen vierjährigen Sohn Mark brachten sie bei den Grosseltern unter. Fünf Monate am Stück war Wiktorija von ihrem Sohn getrennt. Die Sorgen von Wiktorija wuchsen mit jedem weiteren Kriegstag, erzählt Wiktorija in ihrem Zuhause in einem Vorort von Kiew.
Als immer mehr unserer Freude an der Front fielen, begann ich mir Gedanken zu machen. Was, wenn ich oder mein Mann nicht überleben? Was, wenn mir schlicht die Zeit nicht mehr reicht? Ich habe begriffen, dass ich es vielleicht einfach nicht schaffe, ein zweites Kind mit meinem Liebsten zu haben.
Während Wiktorija mit der rechten Hand Quarkplätzchen in Form drückt, versucht sie auf ihrem linken Arm ihre Tochter Bella zu halten. Bella ist während des Krieges im Juli 2023 zur Welt gekommen. Geht Wiktorija nach draussen, schläft die kleine Tochter an der frischen Luft im Kinderwagen schnell ein.
Wiktorija kämpft bei einer Kaffeepause auf einer Parkbank mit den Tränen: «Jetzt, da ich selbst Mutter bin, möchte ich nicht erleben, dass ich meine Kinder in den Krieg ziehen lassen muss. Ich möchte nicht daran denken.»
Mit dem Gedanken, dass die eigenen Kinder einst in den Krieg eingezogen werden könnten, sind alle Eltern in der Ukraine konfrontiert. Die Ungewissheit, wie lange der Krieg noch andauern wird, ist zermürbend.
Zeichen des Widerstandes
Dennoch steht für Wiktorija ausser Frage, dass es für sie die richtige Entscheidung war: «Jenen, die denken, dass jetzt nicht der Zeitpunkt ist, um neues Leben in die Welt zu bringen, möchte ich sagen: Es gibt keinen besseren Zeitpunkt. Wir müssen dies jetzt tun. Wenn der Wunsch, die Liebe, der Mensch da ist, mit dem man ein Kind haben möchte, und die Liebe weitergetragen werden soll, dann sollte man dies tun.»
Die Entscheidung, Kinder zu haben, hat in der Ukraine seit Kriegsbeginn zusätzlich an Bedeutung gewonnen. Kinder allen Widerständen zum Trotz in die Welt zu bringen, wurde zu einem Zeichen des Widerstandes. «Wir dürfen nicht zulassen, dass uns unser Feind dies wegnimmt. Denn darin liegt der Sinn des Lebens.»
Wiktorija ist zurzeit noch im Mutterschaftsurlaub. Sie weiss bisher nicht, ob sie danach zur Armee zurückkehren wird.