«Ich habe nicht mehr den Partner neben mir, den ich geheiratet habe», beschreibt Nadine Haldemann die Beziehung zu ihrem Ehemann Stefan. Vier Jahre nach ihrer Heirat erhält Stefan T. Müller mit 57 Jahren die Diagnose Demenz in jungem Alter.
Das Leben des Paars ändert sich komplett: Nadine Haldemann wird mit 47 Jahren zur Betreuerin ihres Partners. «Ich werde mit der Diagnose nie restlos Frieden machen. Zuschauen, wie mein Mann jeden Tag etwas mehr verschwindet, macht mich traurig.»
Jede Viertelstunde eine Demenz-Neuerkrankung
In der Schweiz leben gemäss Angaben der gemeinnützigen Organisation Alzheimer Schweiz gut 150‘000 Personen mit Demenz. Tendenz stark steigend. Jährlich erhalten allein in der Schweiz rund 33‘000 Menschen die Diagnose Demenz.
Jede Viertelstunde erkrankt demnach eine Person in der Schweiz an der Krankheit, die einen Denk- und Leistungsfähigkeitsabbau zur Folge hat.
Stefan T. Müller ist einer von 8000 Menschen, die in der Schweiz an Jung-Alzheimer erkrankt sind. Seine Partnerin nahm erste Anzeichen der Demenzerkrankung 2018 wahr. Beruflich steht Stefan T. Müller auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Ein neuer Job als Senior Consultant bei einer international tätigen Beratungsfirma. Er ist international unterwegs.
Privat ist er glücklich in zweiter Ehe verheiratet. Zusammen mit Partnerin Nadine Haldemann treibt er viel Sport, geniesst das Leben, ist auf Reisen. Schleichend aber kann er alltägliche Dinge nicht mehr, wird ungeduldig, zuweilen aggressiv.
Fehldiagnose Burn-out
Zu Hause hält er sich nicht mehr an Abmachungen, vergisst Dinge. Die erste Diagnose zwei Jahre nach der Neuanstellung und der Hochzeit: Burn-out. Es ist eine Fehldiagnose.
Der ehemalige Wirtschaftsberater verliert seinen Job, weil er seine Leistung nicht mehr erbringen kann. Für ihn war das damals das Schlimmste. Den leitenden Job, mit dem er sich identifiziert hat, nicht mehr ausführen zu dürfen, hat ihn getroffen. «Nicht mehr arbeiten können, hat mir am meisten Mühe gemacht», gesteht Stefan T. Müller.
Nadine Haldemann kann und will nicht glauben, dass die Unzuverlässigkeit, das Überfordertsein mit Alltäglichem und die Verwirrtheit auf ein Burn-out zurückzuführen seien. 2020 die Schockdiagnose. Stefan leidet an Alzheimer. Sein Verhalten war somit erklärbar. Für Stefans Partnerin Nadine bedeutete dies ab sofort: volle Verantwortung. 60 Prozent des gemeinsamen Einkommens brechen weg. Der Kampf um IV-Gelder und die richtige Betreuung beginnt.
Fehlendes Angebot für Alzheimer-Jungerkrankte
Personen, die im Berufsleben stehen und an Demenz erkranken, haben ganz andere Probleme als Menschen, deren Demenz nach der Pensionierung beginnt.
Das weggebrochene Einkommen, die Finanzierung der Betreuung und fehlende Angebote sind zentrale Fragen für Jungerkrankte. «Korbflechten oder Seidentuchhochwerfen ist für mich der Horror», gesteht Stefan T. Müller ein Jahr nach der Diagnose. «Dafür bin ich noch zu jung.»
Noch ist er zu Hause, während Nadine als Sektionsleiterin bei der Kantonalen Verwaltung arbeitet. Seine Tage verbringt der inzwischen 58-Jährige mit Einkaufen oder er geht mit Leuten einer Selbsthilfegruppe auf Wanderungen. Schon in gut einem Jahr wird das nicht mehr möglich und Stefan auf mehr Fremdbetreuung angewiesen sein.
Vorbeugende Massnahmen gegen Demenzerkrankung
Die Medizin kennt gegen Demenz noch kaum Mittel. Umso wichtiger sind Beratungsangebote, die den Betroffenen und auch den Angehörigen im Alltag helfen. Wie Stefan T. Müller stehen die meisten Jungerkrankten mit 45, 50 oder 60 Jahren im Berufsleben, haben Kinder.
Mit der Diagnose Demenz haben Betroffene Anspruch auf IV. Es mangele in der Schweiz aber an speziellen Heimen oder Tagesstätten für Alzheimer-Jungerkrankte, sagt Nadine Haldemann.
Eine Studie der Universität Exeter und der Universität Maastricht mit 350’000 Teilnehmenden unter 65 Jahren in ganz Grossbritannien kommt zum Schluss: Demenz kann man teilweise vorbeugen.
Die Forschung fokussierte sich auf Lebensstilfaktoren, genetische Veranlagungen und Gesundheitsgewohnheiten. Die Ergebnisse unterstreichen, dass regelmässige körperliche Aktivität, eine gesunde Ernährung und soziale Interaktion entscheidende Elemente sind, die das Demenzrisiko signifikant reduzieren können.
Krankheitsbegünstigende Faktoren
Das Fachmagazin JAMA Neurology nennt 2023 geringe Bildung, niedrigen sozioökonomischen Status, Alkoholmissbrauch, Vitamin-D-Mangel oder aber hohe Werte an Lebereiweissen als mögliche Faktoren, die die Krankheit begünstigen.
Lungenentzündung als häufige Todesursache
Der Krankheitsverlauf von Alzheimer-Patienten, die in jungen Jahren erkranken, ist sehr individuell. In der Regel sterben sie an den Komplikationen, die mit dem fortschreitenden Verlust geistiger Funktionen einhergehen.
Häufige Todesursachen sind Infektionen wie Lungenentzündung oder Harnwegsinfekte, die aufgrund des geschwächten Immunsystems auftreten können.
Zudem kann Mangelernährung aufgrund von Schluckstörungen und Appetitlosigkeit auftreten. Die allgemeine Schwächung des Körpers, Unfälle aufgrund von eingeschränkter Mobilität sowie das Versagen lebenswichtiger Organe können ebenfalls zu einem vorzeitigen Tod führen.
Innerhalb von drei Jahren: von der Teilautonomie zur 24-Stunden-Betreuung
Anders als bei älteren Personen, die an Demenz erkrankt sind, schreitet die Krankheit bei jüngeren Betroffenen oft schneller voran. Innerhalb von drei Jahren nimmt die Denk- und Leistungsfähigkeit auch bei Stefan T. Müller stark ab.
Zwischenzeitlich und drei Jahre nach der Alzheimer-Diagnose ist eine 24-Stunden-Betreuung nötig. Wenn nicht seine Partnerin Nadine Haldemann die Tagesstruktur inklusive Essensversorgung und Körperhygiene übernimmt, dann eine externe Tagespflege oder Stefans erwachsene Kinder.
Allein kann der heute 59-Jährige den Alltag nicht mehr bestreiten. Wochentags in einer Institution zu verbringen, kommt weder für Stefan noch für Nadine infrage. Deshalb übernehmen Fremdbetreuerinnen die Pflege zu Hause.
Emotionaler Stress für alle
Eine Befragung von Alzheimer Schweiz bei Angehörigen zeigt auch auf, dass die Belastung, die mit fortschreitender Krankheit und zunehmender Abhängigkeit in der Alltagsbewältigung einhergeht, zu einer enormen zeitlichen und emotionalen Belastung der Angehörigen führt.
Für sie stellt folglich die Organisation des täglichen Lebens das wichtigste Problem dar. Sowohl kurz- als auch langfristige Heimaufenthalte werden von vielen Betroffenen oder ihren Angehörigen als finanziell zu teuer beurteilt.
Das A und O – Sensibilisierung und Beratung
Es ist Stefan T. Müllers und Nadine Haldemanns Anliegen, die Gesellschaft für das Thema Alzheimer in jungen Jahren zu sensibilisieren. Das Betreuungsangebot für Personen unter 65 Jahren sei bislang nicht genügend. Und auch das Bewusstsein in der Gesellschaft, dass Demenz auch in jüngerem Alter auftreten könne, könnte ihrer Ansicht nach grösser sein.
Die beiden sind dankbar, dass sie mit der gemeinnützigen Organisation Alzheimer Schweiz eine Anlaufstelle gefunden haben, die sie berät und unterstützt. «Darüber zu reden, kann die Krankheit nicht wegzaubern, aber es hilft trotzdem», meinen die beiden.