Sechs Bundesordner mit teilweise unveröffentlichtem Material – Akten, Tagebucheinträge, Briefwechsel – bilden die Grundlage, um den wohl aufsehenerregendsten Kriminalfall der Schweizer Geschichte noch einmal unter die Lupe zu nehmen: die Taten des Kindermörders Werner Ferrari.
Dazu kommen Anklagen, Einvernahmeprotokolle, Urteile und psychiatrische Gutachten, die den Schluss zulassen, dass die Ermittlungen der Polizei in den verschiedenen Kantonen nicht optimal verliefen. Vor allem der Informationsaustausch war mangelhaft.
Selbstverständlich muss den Ermittlern zugutegehalten werden, dass Ermittlungsmethoden wie Handyortung oder DNA-Überprüfung in den 1980er-Jahren noch kein Thema waren.
Wir waren erstaunt, dass Werner Ferrari nicht automatisch genauer überprüft wurde.
Und doch: Wie war es möglich, dass Werner Ferrari neun Jahre lang morden konnte, obwohl man ihn längst hätte kennen können? Bereits 1971 hatte er getötet und war dafür zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Als er nach acht Jahren frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen wurde, setzte die Mordserie ein.
«Wir waren erstaunt, dass Werner Ferrari nicht automatisch genauer überprüft wurde», sagt Peter H., der Ferrari gut kannte. Der Kindermörder war in seiner Jugendzeit bei Peter H.’s Familie ein und aus gegangen.
Er sei fast ein wenig erleichtert gewesen, als damals nichts über Ferrari in den Zeitungen stand. Er sei danach davon ausgegangen, dass es sich beim Serienmörder um einen anderen Täter gehandelt habe.
Widerruf der Geständnisse und neue Beweise
Von 1980 bis 1989 verschwanden 21 Kinder und Jugendliche. Einige dieser Fälle sind bis heute ungeklärt. Von sieben Opfern fehlt jede Spur. Ferrari wurde nach seiner Verhaftung für fünf Fälle verantwortlich gemacht.
Zwar platzte der erste Prozess gegen ihn, weil er vor dem Badener Bezirksgericht im Dezember 1994 überraschend alle Geständnisse wieder zurückzog. 1995 wurde er jedoch zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt.
In Mordfall Ruth S. kam es zwölf Jahre später zu einem aufsehenerregenden Revisionsverfahren, in dem festgestellt wurde, dass er höchstwahrscheinlich nicht der Täter war.
Der Fall in den Medien
Eine wesentliche Rolle spielten in all diesen Fällen auch die Journalisten Peter Holenstein und Viktor Dammann. Ihnen gelang es, neue Beweise und Indizien im Zusammenhang mit dem Fall der ermordeten Ruth S. zu finden.
Immer wieder, vor allem samstags, verschwanden Kinder.
Ihre Ermittlungen führten gar dazu, dass Ferrari in diesem einen Fall freigesprochen wurde. Viktor Dammann, langjähriger Blick-Journalist, erinnert sich an die Vorkommnisse. Es gelang ihm, ein Bild im Blick zu veröffentlichen, das Werner Ferrari hätte entlasten können.
Eindrücklich schildert er die Stimmungslage, die in der Schweizer Bevölkerung vorherrschte: «Eltern liessen ihre Kinder nicht mehr sorglos draussen spielen. Immer wieder, vor allem samstags, verschwanden Kinder. Es herrschte eine Stimmung der Angst und Verunsicherung.»
Mangelhafte Ermittlungen
Ungereimtheiten und Fehleinschätzungen prägten die jahrelangen Ermittlungen und Prozesse. Hinweise auf die Täterschaft wurden zwischen den kantonalen Ermittlern entweder gar nicht erst weitergeleitet oder von den jeweils zuständigen Beamten nicht angemessen beachtet.
Nur so ist es zu erklären, dass der Täter fast zehn Jahre lang unbehelligt blieb. Was jedoch nichts daran ändert, dass Werner Ferrari ein gefährlicher und laut psychiatrischen Fachleuten ein unberechenbarer, gefährlicher Sexualstraftäter war.
Kontakt mit Werner Ferrari
Seit 32 Jahren sitzt er nun im Gefängnis. Als SRF DOK mit ihm brieflichen Kontakt aufnahmen, kam postwendend Antwort und die Absichtserklärung, beim Filmprojekt mitzumachen.
Es folgte ein monatelanger Briefwechsel. Als die Dreharbeiten unmittelbar bevorstanden, zog Ferrari seine Teilnahme überraschend zurück.
Dass sich Werner Ferrari immer wieder widersprüchlich verhielt und verhält, ist aktenkundig. Einzelne Gutachten halten es sogar für möglich, dass er in seiner Persönlichkeit etwas Gespaltenes hat.
Dafür würde sprechen, dass er sich einmal Werner und dann wieder Marco Ferrari nennt. Verblüffend, dass sich je nach verwendetem Vornamen das Schriftbild seiner Handschrift verändert.
Ein Opfer der Gesellschaft?
Peter H., der Ferrari fast als grossen Bruder erlebte und in Erinnerung hat, ist überzeugt davon, dass Ferrari auch ein Opfer der Gesellschaft wurde.
Zwar will er die Taten Ferraris auf keinen Fall relativieren, jedoch hält er Ferraris Vergangenheit für entscheidend für die persönliche Entwicklung.
Schwierige Kindheit als Grund?
Werner Ferraris Leben gleicht tatsächlich einem üblen Klischee. Ab seinem dritten Lebensjahr verbrachte er Kindheit und Jugend mehrheitlich in Heimen und Anstalten. Er erlebte Gewalt und Missbrauch, wurde selbst früh straffällig.
Das Erlebte rechtfertigt seine Taten nicht. Und doch dürfte seine eigene Biografie ihn in seinem Handeln geprägt haben. Kurt Schnidrig war eines der Kinder, denen sich Ferrari damals näherte.
Aber ja, Ferrari fasste mich an, dafür schenkte er mir Süssigkeiten oder liess mich mit seinem VW Käfer fahren.
Schnidrig will heute nicht explizit schildern, was bei den Begegnungen genau geschah. «Aber ja, Ferrari fasste mich an, dafür schenkte er mir Süssigkeiten oder liess mich mit seinem VW Käfer fahren.»
Wenn Schnidrig heute zurückblickt, wundert auch er sich darüber, dass er sich nicht gegen die Übergriffe gewehrt hatte. Aber: «Vielleicht rettete mir genau dies das Leben.»
Schnidrig ist überzeugt davon, dass Ferraris eigene Kindheit ihn zu dem Menschen gemacht hat, der er wurde. Zu einem der schlimmsten Mörder der Schweizer Kriminalgeschichte.
Wie viele Kinder er umgebracht hat, weiss nur er selber.
«Was war zuerst, das Huhn oder das Ei?», fragt sich auch Erich Kuhn, der damalige Staatsanwalt des Kantons Aargau im Film. Er war verantwortlich für die Anklage gegen Ferrari. «Eine gute Anklageschrift!», wie er betont.
Auch wenn er im Nachhinein zugeben muss, sich in Ferrari auch geirrt zu haben. Denn Kuhn war es, der von der Schuld Ferraris beim Mord an Ruth S. überzeugt war.
Und noch heute hält er es für möglich, dass Ferrari auch für weitere Morde verantwortlich ist. «Wie viele Kinder er umgebracht hat, weiss nur er selber.» Aber vielleicht habe er das auch verdrängt. Von der Richtigkeit des Urteils ist er aber heute noch überzeugt.
Die Trauer bleibt
33 Jahre sind vergangen, seit Fabienne Imhof von Werner Ferrari ermordet wurde. Fabienne war das letzte Opfer Ferraris. Das neunjährige Mädchen hatte mit einer Freundin die Chilbi an ihrem Wohnort Hägendorf SO besucht.
Mutter Raphaela und Vater Paul erinnern sich noch an jedes Detail. Der Tod ihrer Tochter beschäftigt sie auch heute noch jeden Tag. Dass sie dem Täter verziehen haben, konnten viele nicht glauben. «Was nützt es, ihn zu hassen?», fragen sie.
Auch wenn sie die Tat nie verstanden und auch nie verstehen werden. Die Trauer ist heute noch da, auch wenn der Schmerz über die Jahre nachgelassen hat: «Über so etwas kommt man nie hinweg.»
Immerhin, das Urteil empfanden sie damals als Genugtuung. Und sie sind froh, dass der Mord an ihrer Tochter aufgeklärt werden konnte. «Viele Eltern erfahren nie, was mit ihrem Kind passiert ist. Das ist das Schlimmste.»
Wenige Tage nach dem Mord an Fabienne wurde Werner Ferrari am 30. August 1989 verhaftet.