Sie haben Ausdauer. Die Menschen, die seit Ende November jeden Abend in der georgischen Hauptstadt Tiflis und anderswo demonstrieren. Mal waren es Zehntausende. Dann wieder kleinere Gruppen.
Meistens dabei ist die Bernerin Barbara Gimelli Sulashvili, die seit bald zwanzig Jahren in Georgien lebt. Sie und ihr georgischer Mann Gigi haben vier Kinder.
«Wo sind wir hingekommen mit diesem Georgischen Traum?», fragt Barbara Gimelli Sulashvili und gibt die Antwort selbst: «Menschen, die für Freiheit und Selbstbestimmung friedlich demonstrieren, werden zusammengeschlagen und zu politischen Häftlingen.» Die demokratischen Institutionen würden vereinnahmt und zu formalen Hülsen ausgehöhlt.
Verhaftungen, Misshandlungen und Erniedrigungen
Am 28. November hatte die von der Partei «Georgischer Traum» dominierte Regierung bekannt gegeben, dass das Land die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union auf Eis lege – bis 2028. Das ärgerte die Menschen wohl noch mehr als die umstrittenen Parlamentswahlen vom Oktober.
Die Regierung reagierte auf die Proteste in einer Art, die wenig mit Europa, aber mehr mit Ländern wie Belarus oder Russland zu tun hat. Menschenrechtsorganisationen berichten von Hunderten Verhaftungen, Misshandlungen, Erniedrigungen und Gerichtsprozessen, bei denen den Demonstranten teils Jahre Haft drohen.
Die USA und die EU haben zwar Sanktionen ausgesprochen, aber bisher anscheinend zu schwache, um in Georgien ein Umdenken bei der Regierung zu erreichen. In Russland wird derzeit wohl mit Zufriedenheit beobachtet, wie ein georgischer EU-Beitritt in weite Ferne rückt. Viele Oppositionelle sagen gar: Russland beeinflusse im Hintergrund aktiv die Politik der georgischen Regierung.
Zunehmend autoritäre und antiwestliche Regierung
«Wir machen eine pragmatische Friedenspolitik», sagt Lewan Machaschwili, Parlamentarier der Regierungspartei «Georgischer Traum». Man versuche, Schritte zu verhindern, die zu einem Krieg mit Russland führen könnten.
Geprägt wird die Politik seiner Partei vom Multimilliardären Bidsina Iwanischwili. Er kam mit seiner Partei vor zwölf Jahren an die Macht und versprach, die Beziehungen zu Russland zu verbessern, aber Georgien auch auf dem europäischen Weg weiterzuführen. Immerhin hat es bis zum EU-Kandidaten-Status gereicht.
Doch Iwanischwilis Politik wird immer autoritärer und antiwestlicher. Ähnlich wie Russland unterstützt er Gesetze gegen LGBT-Menschen oder vom Ausland mitfinanzierte Nichtregierungsorganisationen. Und jetzt das brutale Vorgehen der Regierung gegen die Opposition. Kurz: der «Georgische Traum» will zwar offiziell in die EU (wohl wissend, dass sich eine grosse Mehrheit der Menschen im Lande genau das wünscht), aber sie tun viel dafür, um die EU abzuschrecken.
Warum Iwanischwili diesen Kurs eingeschlagen hat, ist das grosse Rätsel. Steht er im Dienste Russlands? Oder geht es ihm nur um den Machterhalt? Oder um sein Vermögen?
Barbara Gimelli Sulashvili meint: Georgien stehe an einem Scheideweg. Dafür lohne es sich, Abend für Abend auf den Strassen Tiflis zu stehen und zu protestieren.