Marcel ist in einer Chrischona-Gemeinschaft gross geworden. Als er sich dort als schwul geoutet habe, sei er so lange verurteilt und abgelehnt worden, bis er die Freikirche verlassen habe, erinnert sich der 53-jährige.
Marcel, der nicht mit vollem Namen genannt werden möchte, erzählt, wie Mitglieder der ehemaligen freikirchlichen Gemeinschaft immer wieder aus der Bibel zitierten und seine sexuelle Identität als schwuler Mann als sündhaft abtaten. «Sie meinten, sie könnten mich umpolen. Das stürzte mich in eine grosse Depression. Ich sah keinen Sinn mehr in meinem Leben, weil ich einen Teil meiner Identität unterdrücken musste.»
In der Schweiz gibt es laut der Plattform «kirchen.ch» rund 1'400 freikirchliche Gemeinden. Die meisten evangelikalen Freikirchen vertreten konservative Positionen zu Themen wie Sexualität und Ehe. Der grösste Dachverband «Freikirchen.ch» umfasst zwanzig Verbände, zu denen 750 evangelikale Freikirchen gehören.
Ich wusste nicht, ob ich kämpfen oder mir das Leben nehmen soll
In den Leitlinien des Dachverbandes steht beispielsweise «Gott erschuf den Menschen als Mann und Frau» und «Ehe und Sexualität ist zwischen Mann und Frau». Der Dachverband wollte sich gegenüber SRF nicht zu den Leitlinien äussern.
«Sie sahen mich in der Hölle»
Der Druck der konservativen, bibeltreuen Gemeinschaft hat bei Marcel tiefe Spuren hinterlassen. Er ist mit seinen Erfahrungen nicht allein. Drei Transmenschen, die anonym bleiben möchten, erzählen von Ausgrenzung und Ablehnung in ihren Glaubensgemeinschaften.
Ein Transmann erzählt: «Als mir nahestehende Personen erfuhren, dass ich eine Frau bin, durfte ich ihr Haus nicht mehr betreten. Sie sahen mich in der Hölle. Ich wusste nicht, ob ich kämpfen oder mir das Leben nehmen sollte.»
Auch Rita hat in ihrer ehemaligen Freikirche in Winterthur Ausgrenzung erlebt. Auch sie möchte nicht mit vollem Namen genannt werden. Als Transfrau, die mit einer Frau verheiratet ist, wurde sie nicht akzeptiert. Sie konnte nur als Mann die Gottesdienste besuchen.
Die Begründung: In der Bibel stehe, Gott habe den Menschen als Mann und Frau geschaffen. «Es leuchtet mir nicht ein, warum es Gott stören sollte, dass ich jetzt halt eine Frau bin und einen Rock trage», sagt Rita.
Queerfreundliche Freikirchen
Rita habe sich nach Alternativen umgesehen, wo sie ihren Glauben als Transfrau leben könne und von der Gemeinschaft akzeptiert werde. Heute besucht sie, wie auch Marcel, die evangelisch-methodistische Regenbogenkirche in Zürich.
Die Evangelisch-Methodistische Kirche sei die einzige explizit offen queerfreundliche Freikirche der Schweiz, sagt SRF-Religionsredaktorin Dorothee Adrian. Die Kirche pflege inzwischen eine ausgesprochene Willkommenskultur («welcoming church»). In anderen Freikirchen gebe es zwar auch einzelne Stimmen, die für eine Öffnung plädieren, doch keinen Konsens oder offizielle Statements.
Die Evangelisch-Methodistische Kirche lässt seit 2024 gleichgeschlechtliche Ehen und Queere zu kirchlichen Ämtern zu. «Wünschenswerterweise schliessen sich Freikirchen dem Weg der Methodistinnen und Methodisten an – aber es wird immer auch sogenannt «bibeltreue» geben, die daran festhalten, dass Homosexualität Sünde sei», so Adrian.
Urs Bertschinger, Gemeindeleiter der Regenbogenkirche, wünscht sich, dass es irgendwann gar keine Regenbogenkirche mehr braucht, weil alle Freikirchen Inklusion leben.
Emotionaler Austritt
Für Marcel und Rita war der unfreiwillige Austritt aus ihren ehemaligen Freikirchen ein langer, emotionaler Prozess. Denn Freikirchen sind oft eng verbundene Gemeinschaften, in denen das soziale Leben stark von der Kirche geprägt ist.
Wer austritt, riskiert den Verlust von Freundschaften oder sogar der Familie. Hinzu kommt Orientierungslosigkeit, denn viele kennen kein anderes Lebenskonzept als das, welches bibeltreue Freikirchen vorleben.
24 Jahre lang war Conny Kradolfer Mitglied von freikirchlichen Bewegungen. Queere Identitäten seien nie Thema gewesen in der Gemeinschaft. Es sei ein grosses Tabu. «Ich habe wohl lange verdrängt, dass ich queer bin. Ich hätte Freundschaften und mein soziales Umfeld verloren, wenn ich mich geoutet hätte», ist Kradolfer überzeugt.
Beziehung ohne Sex
Erst als sich Kradolfer vor Kurzem in eine Frau verliebte, akzeptierte sie, dass sie bisexuell ist. Sie wollte diesen Teil ihrer Person nicht länger verstecken und suchte das Gespräch mit der Kirchenleitung. Diese reagierte zunächst offen.
Man habe noch nie eine queere Person in der Kirche gehabt und wolle das Thema gemeinsam angehen. Gleichzeitig wurde Kradolfer jedoch nahegelegt, ihre gleichgeschlechtliche Beziehung ohne Sex zu führen. Gegenüber SRF wollte sich die Kirchenleitung nicht dazu äussern.
Conny Kradolfer war enttäuscht. Sie entschied sich daraufhin, die Freikirche zu verlassen. «Meine sexuelle Identität wäre für viele Gemeindemitglieder eine Provokation», meint sie und wechselte in die queerfreundliche Mosaik-Kirche, ein Angebot der reformierten Kirche.
Kampfthema LGBTQ+
Ein zentrales Argument konservativer Freikirchen gegen queere Identitäten ist die theologische Interpretation der Bibel. Bestimmte Bibelstellen werden oft zitiert, um Homosexualität oder Geschlechtsvielfalt als «Sünde» zu definieren.
Boris Eichenberger ist Gemeindeleiter und Pastor einer evangelischen Freikirche im Kanton Aargau. Er bedauert, dass LGBTQ+ zu einem Kampfthema in der freikirchlichen Bewegung geworden ist und dies zu Austritten führt.
Sünde oder nicht Sünde?
Als Pastor und Theologe sei es aber schwierig, eine klare Haltung zu diesem umstrittenen Thema zu haben: «Würde ich behaupten, Homosexualität sei eine Sünde, so würde ich viele vor den Kopf stossen. Würde ich hingegen sagen, es sei keine Sünde, würden konservative Gemeindemitglieder fragen, ob ich die Bibel überhaupt ernst nehme.»
Deshalb versucht Eichenberger in diesem spannungsgeladenen Feld keine klaren Anweisungen zu geben: «Mir sind andere Themen, zum Beispiel Nächstenliebe, wichtiger.»