Claudia Nef steht in der Flüchtlingsunterkunft Marienfried in Uzwil, Kanton St. Gallen. Die Wand vor ihr ist mit Zeichnungen tapeziert, gemalt von jungen Geflüchteten. Darauf zu sehen sind deren Traumberufe: Landwirt, Kellner, Fischer, Blumenverkäufer, Maler oder Gärtner.
«Hier haben wir viele Berufe, bei denen man sagen muss: Das ist realistisch», erklärt Nef. Natürlich müsse man Gas geben, fit sein, lernen, dranbleiben. «Aber das sind nicht einfach Luftschlösser.»
Claudia Nef ist Geschäftsführerin beim Tisg, dem Trägerverein Integrationsprojekte St. Gallen, und somit die Asylkoordinatorin der Gemeinden des Kantons. Einer ihrer zentralen Aufträge: Dafür sorgen, dass die Integration in den Arbeitsmarkt nachhaltig gelingt. Das sei im Interesse aller, sagt sie später bei einem Vortrag vor dem Gewerbeverein Gaiserwald.
«Wenn wir einen 25-Jährigen haben und es nicht schaffen, ihn zu integrieren, dann kostet er uns bis zur Pensionierung eine Million Franken Sozialhilfe», rechnet sie den Anwesenden vor. Ein Zuhörer hakt nach: Ob es denn nicht vor allem darum gehe, diese Leute dazu zu motivieren, dass sie überhaupt etwas tun wollten. Nef widerspricht: «Der allergrösste Teil dieser jungen Männer will.» Die seien nicht hierhergekommen, um ihr Leben von einigen hundert Franken Sozialhilfe zu fristen.
Erwerbsquote nach sieben Jahren: 56 Prozent
Eigentlich biete die Schweiz optimale Voraussetzungen für eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenquote liegt derzeit unter 2.5 Prozent. Und über 35'000 Stellen sind unbesetzt.
Trotzdem sind die Zahlen aus dem Flüchtlingsbereich ernüchternd: Die Sozialhilfequote lag in den vergangenen zehn Jahren konstant über 80 Prozent. Nachzulesen ist dies beim Bundesamt für Statistik (BFS), das diese Zahlen sammelt und regelmässig veröffentlicht.
Gleichzeitig sind sieben Jahre nach ihrer Einreise erst gut die Hälfte der anerkannten Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen erwerbstätig, genau: 56 Prozent. Diese Zahlen stammen vom Staatssekretariat für Migration (SEM) und beziehen sich auf Menschen, die bei ihrer Ankunft zwischen 16 und 55 Jahre alt waren.
Interessant: Die Erwerbstätigenquote unterscheidet sich deutlich nach Geschlecht. 71 Prozent der Männer sind sieben Jahre nach Einreise erwerbstätig, bei den Frauen beträgt die Erwerbstätigenquote 36 Prozent.
Ein jahrelanger, aufwendiger Prozess
Einerseits sagt eine ausgewiesene Fachperson wie Claudia Nef also, bei den meisten Geflüchteten, die sie aus ihrer täglichen Arbeit kenne, bestehe kein Motivationsproblem. Die wollten arbeiten und sich wirtschaftlich verbessern. Deren Ziel sei es nicht, sich in der Sozialhilfe einzurichten. Andererseits zeigen die Zahlen des SEM und des BFS, dass die Bilanz durchzogen ist.
Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären? Nef verweist auf die Anforderungen des Schweizer Arbeitsmarktes, die in vielen Bereichen sehr hoch seien. Die erste Herausforderung sei die Sprache, die in Wort und Schrift beherrscht werden müsse. Diese wiederum sei die zentrale Voraussetzung für eine Lehre. Die Lehre wiederum setze eine Schulbildung voraus, die in vielen Fällen noch nicht vorhanden sei. Mit anderen Worten: ein jahrelanger, aufwendiger Prozess.
Oft kleiner Bildungsrucksack
Die Schweizer Gesellschaft überaltert. Sie ist dringend auf Arbeitskräfte angewiesen, vor allem auf Fachkräfte. Wie weit der Weg dorthin in vielen Fällen ist, zeigt die Tatsache, dass oft zuerst eine Alphabetisierung in lateinischer Schrift erfolgen muss.
Eine Auswertung des Amtes für Migration und Integration des Kantons Aargau für SRF belegt dies: 2023 waren im Aargau 59 Prozent der anerkannten Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen aus Afghanistan nicht alphabetisiert in lateinischer Schrift. Sie beherrschen nur das arabische Schriftbild ihrer Heimat. Bei jenen aus Syrien waren es 57 Prozent.
Auch in Bezug auf eine Ausbildung ist die Herausforderung gross. Das zeigen Zahlen, welche die Dienststelle Asyl- und Flüchtlingswesen des Kantons Luzern für 2023 bei anerkannten Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen für SRF erhoben hat. 87 Prozent der Menschen aus Eritrea verfügten bei ihrer Einreise über keine abgeschlossene Ausbildung, bei jenen aus Syrien waren es 83 Prozent, bei jenen aus Afghanistan 77 Prozent.
Positive Effekte dank Integrationsagenda
Die Probleme sind erkannt und unbestritten. Um sie gezielt anzugehen, wurde die sogenannte Integrationsagenda Schweiz IAS ins Leben gerufen.
Beim SEM heisst es dazu: «Um Flüchtlinge und vorläufig aufgenommene Personen rascher in die Arbeitswelt und die Gesellschaft zu integrieren und um ihre Abhängigkeit von der Sozialhilfe zu reduzieren, haben sich Bund und Kantone 2019 auf eine gemeinsame Integrationsagenda geeinigt, welche verbindliche Wirkungsziele und Prozesse definiert.»
Konkrete Massnahmen der IAS sind unter anderem: Damit sich Geflüchtete rasch zurechtfinden, werden sie persönlich informiert – über Gepflogenheiten, Regeln und Unterstützungsangebote. Ihre Potenziale sollen dank einer systematischen Potenzialabklärung erkannt und genutzt werden. Jede Person soll so gefördert werden, dass es ihr, der Wirtschaft und der Gesellschaft am meisten bringt. Das SEM spricht von positiven Tendenzen, die seit dem Inkrafttreten der IAS nachzuweisen seien.
Eine humanitäre Aufgabe, die uns etwas kosten wird.
Ruud Koopmans, Professor für Migrationsforschung, warnt indes vor falschen Erwartungen. Er erinnert an das Jahr 2015, als Geflüchtete in Deutschland jubelnd empfangen wurden und die Politik und Medien suggerierten, von dieser Fluchtzuwanderung sei ein Wirtschaftswunder zu erwarten, weil sie einen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung des Fachkräftemangels leisten werde.
Diese Zuwanderung sei nicht selektiert nach den Arbeitsmarktbedürfnissen in Europa. «Es ist ein genereller Denkfehler, davon auszugehen, dass man Fluchtzuwanderung so gestalten kann, dass sie zu einem wirtschaftlichen Gewinn für unsere Gesellschaften wird», sagt Koopmans.
Es handle sich vielmehr um eine humanitäre Aufgabe, «die uns etwas kosten wird». Bemerkenswerte Aussagen, über die SRF gerne mit Asylminister Beat Jans gesprochen hätte. Sein Sprecher verlangt vorab detaillierte Interviewfragen – und sagt nach dem Erhalt der Fragen ohne Begründung ab.
Entscheidender Faktor: Alter
Wer in den Kantonen nachfragt, hört immer wieder, dass es trotz aller Abklärung und Förderung auch limitierende Faktoren gebe, gegen die kaum anzukommen sei. Ein solcher Faktor ist das Alter. Je jünger jemand bei der Ankunft sei, desto grösser die Chance einer Integration in den Arbeitsmarkt, sagt Claudia Nef. Im Umkehrschluss heisst das: Je älter, desto schwieriger wird es.
Das deckt sich mit den Zahlen des SEM: Nur gut ein Viertel aller Personen, die bei Einreise 46 Jahre und älter waren, sind sieben Jahre später erwerbstätig. Beinahe drei Viertel nicht. Ein anderer Faktor sind die Wirtschaftssektoren, die in den Kantonen unterschiedlich ausgeprägt sind und darum niedrig Qualifizierte leichter integrieren können. Ist der Tourismus beispielsweise stark, so gibt es in der Hotellerie Stellen, zumal hinter den Kulissen, bei denen die Sprache eine weniger wichtige Rolle spielt.
SP-Bundesrat Beat Jans will die Integration in den Arbeitsmarkt erklärtermassen weiter vorantreiben. Offenbar sind die erzielten Resultate in seinen Augen bisher noch nicht befriedigend. Und er geht davon aus, dass das diesbezügliche Potenzial noch nicht ausgeschöpft ist.
Das SEM formuliert es so: «87 Prozent verfügen tendenziell über ein Potenzial zur Erlangung der Arbeitsmarktfähigkeit und/oder Ausbildungsfähigkeit.» Auch darüber hätte SRF gerne mit Bundesrat Beat Jans gesprochen. Aber er steht nicht zur Verfügung.