Worum geht es? Die Schweiz steht wirtschaftlich gut da. Laut dem Bundesamt für Statistik ist die Wirtschaft zwischen April und Juni leicht überdurchschnittlich gewachsen – nämlich um 0.5 Prozent gegenüber dem Vorquartal. Kein Spitzenwert, aber solide, vor allem im europäischen Vergleich. Gleichzeitig wächst die Schweizer Bevölkerung rasant. 2023 nahm sie um 1.7 Prozent zu – auf fast neun Millionen. Nun mehren sich die warnenden Stimmen: Die hohen Zuwanderungsraten seien gefährlich für den Schweizer Wohlstand. Aber stimmt diese Aussage?
Der Kritiker: Mathias Binswanger, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz, gehört zu denen, die das Schweizer Erfolgsmodell gefährdet sehen durch die Zuwanderer, die vor allem die Personenfreizügigkeit mit der EU ins Land bringt. Er verweist auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf, also jene Zahl, mit der man üblicherweise den Wohlstand eines Landes misst. Das Schweizer BIP pro Kopf sei 2023 sogar geschrumpft, warnt er – laut Seco um 0.1 Prozent. «Da muss man sich fragen, will man wirklich ein Wachstum anstreben, das darauf beruht, dass wir immer noch mehr Menschen in die Schweiz holen, und das auf der anderen Seite gar nicht mehr zu einer Zunahme des Wohlstands in der Schweiz führt», sagt Binswanger. Tatsächlich ist das Bevölkerungswachstum mittlerweile überall in der Schweiz spürbar: Strassen und Bahnen sind oft überfüllt, Wohn- und Mietpreise steigen.
Der Verteidiger: Schluss machen mit der Arbeitsmigration sollte die Schweiz deshalb nicht, sagt Rudolf Minsch, Chefökonom beim Wirtschaftsdachverband Economiesuisse. Die Zuwanderung ermögliche Wirtschaftswachstum und Innovation. Ausserdem könne die Schweiz ihren Arbeitskräftebedarf gar nicht aus eigener Kraft decken: «Das eine sind die Hochqualifizierten, wo wir in der Schweiz einfach zu wenige Talente haben. Zum anderen gibt es viele Jobs, die Schweizerinnen und Schweizer gar nicht mehr erledigen wollen.» Minsch verweist noch auf einen weiteren wichtigen Zusammenhang: Die Personenfreizügigkeit ist quasi das Tauschgeschäft, mit dem die Schweiz einen privilegierten Zugang zum EU-Binnenmarkt erhält. Ohne diesen Zugang, so Minsch, kämen grosse volkswirtschaftliche Kosten auf die Schweiz zu.
Welche Lücken gibt es in der Debatte? Experten monieren, dass grundlegende Informationen zu den tatsächlichen Kosten und zum Nutzen der Arbeitsmigration fehlen. «Die Situation wird nicht umfassend angeschaut», sagt Irmi Seidl, Wirtschaftsprofessorin von der Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Sie wünscht sich eine Rechnung, die alles in den Blick nimmt – von den wirtschaftlichen Impulsen über die Effekte auf die AHV bis hin zum Ausbau von Strassen und Schulen. Erst dann könne man wirklich abwägen.
Hinzu kommt: Das Bruttoinlandsprodukt als Mass für den Wohlstand ist umstritten. «Das BIP bildet vieles nicht ab, was uns Wohlergehen schafft», sagt Seidl und verweist auf Ferien, Familien- oder Milizarbeit. Genau an der Stelle aber hat sich die Schweiz verändert: Seit dem Jahr 2000 ist die Jahresarbeitszeit der Erwerbstätigen um rund 10 Prozent gesunken. Zurück zur Zuwanderung: Womöglich verringert sich künftig das Wirtschaftswachstum pro Kopf in der Schweiz tatsächlich, und womöglich spielen dabei auch die Zuwanderer eine Rolle. Wie gut es dem Land damit geht, können Zahlen wie das BIP aber nur begrenzt ausdrücken.