«Das Kindliche. Diese Unbeschwertheit. Die Herzlichkeit. Das ist das, was wirklich schön ist.» So beschreibt Marc (Name geändert), 60, seine Anziehung zu Kindern. Seit seiner Pubertät lebt er mit einer pädophilen Neigung. Viele Jahre lang führte Marc ein Doppelleben. Er war mit seinen drei Kindern und seiner Frau glücklich – bis zu dem Tag, als die Polizei eines Morgens vor seiner Haustüre stand. Der Grund: Verdacht auf Kindesmissbrauch.
Das war ein Fehler – ein grosser Fehler.
Seit diesem Tag ist nichts mehr wie vorher. Die Polizeiaktion blieb nicht unbemerkt – Freunde wandten sich ab, seine Frau verliess ihn, und auch die Kinder brauchten zunächst Abstand: «Sobald Leute über die Pädophilie Bescheid wissen, verändert man sich in deren Augen, auch wenn man der gleiche Mensch bleibt», erzählt Marc.
Zwar konnte der Verdacht auf Kindesmissbrauch widerlegt werden. Aber bei der Hausdurchsuchung kam eine andere Straftat ans Licht: Marc hatte Missbrauchsdarstellungen von Kindern im Netz konsumiert. Heute bereut er dieses Verhalten: «Das war ein Fehler – ein grosser Fehler.»
Marc erzählt weiter, er sei als elfjähriges Kind selbst missbraucht worden, was seine Sicht auf seine Neigung beeinflusst habe: «Du weisst, wie sich das anfühlt. Warum soll ich jemandem das Gleiche antun?»
Keine Geheimnisse mehr
Die Pädophilie konnte Marc immer von seinem Eheleben trennen, denn er ist nicht «kernpädophil». Das bedeutet, er fühlt sich auch von erwachsenen Frauen angezogen. «Ich kann Kinder wahnsinnig gerne haben, aber ich verliebe mich nicht in sie», fügt er hinzu.
Marc weiss, dass die meisten Leute ihn für solche Aussagen in den Topf «Vergewaltiger und Kinderschänder» werfen würden: Sie hätten den Eindruck, alle Pädophilen seien Monster und könnten jederzeit über Kinder herfallen. «Ich bin aber nicht der Verbrecher. Ich bin nicht der, der Kinder missbraucht.»
Aktuell wird international davon ausgegangen, dass die Häufigkeit pädophiler Interessen in der Bevölkerung bei etwa einem Prozent liegt. Die Berichterstattung über Pädophilie ist oft sensationell und schockierend.
Schlagzeilen über brutale Missbrauchsfälle prägen das Bild, das viele von diesem Thema haben. Die pauschale Verurteilung setzt viele Betroffene unter enormen Druck. Der wiederum führt oft dazu, dass sie sich isoliert fühlen und weniger Hilfe suchen.
Wirkungslose Zwangstherapie
Nach dem Auffliegen seines Kinderpornografie-Konsums erhielt Marc eine Zwangstherapie verordnet. Aus seiner Sicht war das keine grosse Hilfe: «Dort hiess es nur: Vermeiden, vermeiden, vermeiden. Aber ich wollte einen Umgang damit finden.»
Marcs Erlebnisse nun neun Jahre zurück. Damals ging man mit dem Thema Pädophilie noch anders um. Es war wenig Wissen vorhanden, wie ein Untersuchungsbericht vom Bundesrat aus dem Jahr 2020 zeigt: Von über 400 Psychiatern, Psychotherapeutinnen, Psychologen und Sexologinnen haben 85 Prozent noch nie eine Weiterbildung zum Thema Pädophilie gemacht. Ausserdem sind nur 15 Prozent der Fachpersonen dazu bereit, eine Person mit sexuellen Interessen an Kindern zu behandeln.
Die Befragung zeige deutlich, dass auch unter Schweizer Therapeuten eine Ablehnung gegenüber Personen mit sexuellen Interessen an Kindern besteht, schreibt der Bundesrat im Bericht. Das bestätigt auch die Fachpsychologin Monika Egli-Alge.
Egli-Alge betont, dass frühere Therapieansätze vor allem auf dem Prinzip des reinen «Vermeidens» basierten. «Man hat gar nicht viel gewusst und hat dann vielleicht auch einen falschen Approach gewählt, nämlich vermeiden», erklärt sie. Dieser Ansatz führe zu einer weiteren Isolation der Betroffenen, was ihrer Meinung nach die Problematik nur verschärfe.
Ein wichtiger Punkt ist die Unterscheidung zwischen der Neigung und tatsächlichen Straftaten. Fachleute fordern einen Sprachgebrauch, der klarmacht: Nicht jeder, der pädophile Neigungen hat, begeht auch Straftaten. Diese Unterscheidung hilft, Menschen nicht zusätzlich zu stigmatisieren und schafft Raum für einen sachlichen Dialog.
Individuelle Hilfe statt pauschaler Verurteilung
Es geht darum, den Menschen hinter der Neigung zu sehen – und nicht nur das Risiko von Verbrechen in den Vordergrund zu stellen. «Es braucht ein Wording, das die Neigung als eine Variante der menschlichen Sexualität anerkennt – ohne dabei die Grenzen zur Pädokriminalität zu verwischen», unterstreicht Egli-Alge und fordert damit einen differenzierten Sprachgebrauch, der Vorurteile abbaut.
Meine Haltung ist ganz klar, es braucht nicht jeder Therapie.
Für Monika Egli-Alge steht im Mittelpunkt, dass nicht jeder Betroffene zwangsläufig therapeutische Hilfe benötigt, sofern er seine Impulse selbst kontrollieren kann.
«Meine Haltung ist ganz klar, es braucht nicht jeder Therapie, gesetzt, er ist in seiner eigenen Verhaltenskontrolle, in der Selbstkontrolle und Selbststeuerung sicher genug», so Egli-Alge. Sie plädiert dafür, die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen zu berücksichtigen und fachlich fundierte Angebote auszubauen.
Durch diesen Ansatz soll nicht nur die Lebensqualität der Betroffenen verbessert werden, sondern auch der öffentliche Diskurs über Pädophilie in eine konstruktivere Richtung gelenkt werden.
Monika Egli-Alge zeigt mit ihrer Arbeit, dass ein offener und differenzierter Umgang mit einem so sensiblen Thema möglich ist – und dass es vor allem darum geht, Betroffene zu entstigmatisieren und ihnen dabei zu helfen, einen verantwortungsvollen Umgang mit ihren Neigungen zu entwickeln.
Der freiwillige Weg in die Therapie
Sandro (Name geändert), 32 Jahre alt, hat sich freiwillig in Therapie begeben, um einen besseren Umgang mit seiner pädophilen Neigung zu finden. Für ihn geht es nicht darum, einer möglichen Straffälligkeit vorzubeugen – er betont, dass er noch nie straffällig wurde –, sondern vielmehr darum, belastende Gedanken und Impulse in den Griff zu bekommen und seine Lebensqualität zu verbessern. «Ich gehe nicht in die Therapie, weil ich gefährdet bin, sondern weil es um mich geht», erklärt Sandro.
Er empfindet seine inneren Konflikte als Einschränkung im Alltag: «Ich habe manchmal einfach die Gelüste oder Fantasien, und das schränkt meine Lebensqualität ein. Ich leide darunter.» Für ihn ist es wichtig, diesen Impulsen nicht auszuweichen, sondern aktiv an ihnen zu arbeiten.
Ich will mir nicht die Gedanken verbieten, sondern lernen, mit ihnen umzugehen.
Sandro lehnt jede strafbare Handlung ab und macht klar, dass er sich niemals als Täter sieht. «Ich werde niemals etwas tun, das strafbar ist – das ist für mich eine klare Grenze.» Sein Ziel besteht darin, einen verantwortungsvollen Umgang mit seinen Gedanken zu erlernen, um so seine innere Balance zu wahren.
In der Therapie arbeitet Sandro daran, nicht in ein reines Vermeidungsverhalten zu verfallen. Er verfolgt den Ansatz, sich seinen Gedanken zu stellen und sie zu akzeptieren, ohne ihnen freien Lauf zu lassen. «Ich will mir nicht die Gedanken verbieten, sondern lernen, mit ihnen umzugehen», sagt er. Dieser Prozess ist für ihn ein Lernprozess, der ihm hilft, auch in sozialen Situationen nicht in Panik zu geraten, sondern aktiv und bewusst zu handeln.
Verantwortungsvoll leben
Sandro kritisiert zudem die gesellschaftliche Stigmatisierung von Betroffenen. «Jemand, der ein Kind vergewaltigt, gehört weggesperrt. Das sage ich auch ganz klar. Das darf nicht passieren. Es gibt Leute, die diese Fantasien haben, aber man darf sie nicht in die gleiche Schublade stecken», so Sandro. Er weist darauf hin, dass Vorurteile und pauschale Verurteilungen den psychischen Druck auf Menschen mit pädophiler Neigung weiter erhöhen.
Sein Weg zeigt, dass es möglich ist, trotz innerer Konflikte ein selbstbestimmtes und verantwortungsvolles Leben zu führen, wenn man sich den eigenen Gedanken stellt und sich aktiv um Unterstützung bemüht.
Das Thema fordert einen offenen, differenzierten Umgang – weit weg von pauschaler Verurteilung und veralteten Therapieansätzen. Es gilt, zwischen einer sexuellen Neigung und strafbaren Handlungen zu unterscheiden und Vorurteile abzubauen. Wenn Betroffene individuell unterstützt werden, fällt es ihnen leichter, Hilfe in Anspruch zu nehmen und mehr Selbstkontrolle und innere Balance zu finden.